Die Gottin des Sternentanzes - Unter dem Weltenbaum 06
drehte sich um. Hellefeder, die
Gemahlin des Fürsten, war durch eine Nebentür hereingekommen und trat nun zu den beiden. »Und Rabenhorst
mußte miterleben, wie die Welt, die er kannte, rings um
ihn zusammenbrach. Der Fürst und ich«, sie stellte sich
neben ihren Gemahl und nahm dessen Hand, »gehören
nun selbst zu den Ältesten, und wir haben große Mühe,
uns mit einer so plötzlichen, so drastischen Veränderung
zurechtzufinden.«
»Dann wäre Euch ein plötzlicher, drastischer Tod
wohl lieber?«
Rabenhorst rieb sich die Augen. »Wenn ich den Befehl erteile, Geschwaderführer, wohin wird unser Volk
dann ziehen?«
Dornfeder konnte seine Ungeduld nur schlecht verbergen: »Zu den Städten in den Minarettbergen. Nach Awarinheim, nach Sigholt und sogar nach Karlon. Vielleicht
auch auf die Insel des Nebels und der Erinnerung.«
»Junger Mann, mehrere zehntausend Vogelmenschen
bevölkern den Krallenturm. Sie finden sicher nicht alle
Unterkunft in den Städten der Minarettberge. Und unsere
Freunde in Awarinheim besitzen kaum genug Vorräte,
um sich selbst zu ernähren; da kämen ihnen Scharen von
hungrigen Ikariern sicher nicht gelegen. Als Fürst darf
ich mein Volk nicht ins Ungewisse schicken.«
»Wir finden schon Platz und Nahrung für alle Ikarier!«
Der Fürst wehrte mit einer abschätzigen Geste ab.
»Wenn Ihr nichts unternehmt, seid Ihr noch schlimmer
als Wolfstern«, erklärte Dornfeder ihm mit eisiger Stimme. »Denn dann hättet Ihr Euch mit dem Blut Zehntausender, wenn nicht sogar dem unseres ganzen Volkes
befleckt. Wolfstern hingegen hat sich nur für den Tod
von zweihundert Kindern zu verantworten!«
Rabenhorst und Hellefeder starrten ihn an. Nicht empört, sondern eher erschrocken.
»Das könnt Ihr unmöglich so meinen …« begann der
Fürst.
»Jedes Wort war ernst gemeint!«
Der Herrscher und seine Gemahlin starrten ihn wieder
an, jetzt verwundert. Vor ihnen stand nicht der Dornfeder
von früher.
»Bringt den Mut auf, Euer Volk von hier fortzuführen,
in Sicherheit«, erklärte der junge Mann ihnen ruhig, aber
entschieden, »sonst muß ich diese Aufgabe übernehmen.«
»Aber wo sollen wir denn hin?« fragte die Vogelfrau
erregt und mit weit aufgerissenen Augen. »Und was
müssen wir alles mitnehmen? Also ich glaube wirklich,
diese Entscheidung ist etwas zu übereilt getroffen worden. Wenn es nach mir ginge, würde ich …«
»Ich habe leider keine Zeit, mir Eure Beschwerden anzuhören, gnädige Frau«, brachte Dornfeder sie zum
Schweigen. »Wenn Ihr bitte den Schächten folgen wollt,
die hinauf aufs Dach zu den Aufstiegsbaikonen führen,
dann könnt Ihr schon losfliegen. Auf Gepäck muß leider
verzichtet werden. Aber ich glaube«, er nickte in Richtung eines Heranwachsenden, »Euer Leben und das Eures Sohnes sollte Euch viel wichtiger sein.« Der Knabe,
von größerer Abenteuerlust als seine Mutter, zwinkerte
dem Geschwaderführer zu und schob sie in Richtung des
nächsten Schachts.
Rabenhorst hatte endlich eingewilligt. Ausgestattet mit
dem Einverständnis des Krallenfürsten und, wichtiger
noch, mit dessen Herrschaftsgewalt hatte Dornfeder sich
gleich an die Arbeit gemacht. Jede weitere Minute konnte das Leben Unzähliger bedeuten. Jede Stunde, die noch
bis zum Auszug verstrich, könnte eine Katastrophe heraufbeschwören.
Viele Vogelmenschen waren durchaus bereit, den
Krallenturm zu verlassen. Bei diesen handelte es sich um
diejenigen, die ohnehin vorhatten, den Süden zu besuchen. In den fünf Stunden, die vergangen waren, seit der
Geschwaderführer das Gemach des Fürsten im Laufschritt verlassen hatte, waren mehr als achttausend Ikarier gestartet. Zuerst nach Awarinheim, wo sich alle
sammeln sollten. Und dort würde man weitersehen, wie
viele von ihnen die Waldläufer aufnehmen konnten und
wie viele weiterfliegen mußten.
Dornfeder konnte nur hoffen, daß Axis und Aschure
die Achariten ausreichend darauf vorbereitet hatten, den
plötzlichen Massenansturm der Vogelmenschen klaglos
über sich ergehen zu lassen.
Die jüngeren und mittleren Altersgruppen der Ikarier
mochten sich ja durchaus willig zum Fortgang zeigen,
aber die Älteren zauderten und zögerten zum Federnraufen. Die meisten von ihnen konnten sich einfach nicht
entschließen. Zuviel schien für sie auf dem Spiel zu stehen, zu viel Gewohntes und Liebgewonnenes mußten sie
zurücklassen, und zu viele Unwägbarkeiten erwarteten
sie. Was würde überhaupt aus dem Krallenturm, wenn sie
ihn
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