Die Gottin des Sternentanzes - Unter dem Weltenbaum 06
matte Stimme zu hören.
Und irgendein Gefühl sagte ihm, daß ihm heute nachmittag kein schmählicher Rückzug drohte.
»Mein Täubchen«, umgurrte er seine Greifin, die allererste und die allerschönste. Sie watschelte zu ihm, während ihr Bauch über den Boden schabte. »Wollen wir
einen kleinen Ausritt machen?«
Zu dumm, verzog Kassna betroffen das Gesicht, Imibe
war tatsächlich mit Caelum und Flußstern hinauf auf den
Turm gestiegen, um die beiden hier oben spielen zu lassen. Die Rabenbunderin empfing Kassna mit einem
Blick, als wolle sie die Nor auffordern, zusammen mit
Drachenstern auf der Stelle kehrtzumachen und nach
unten zu verschwinden.
Was bildete sich diese Kindsmagd eigentlich ein?
Kassna warf trotzig den Kopf in den Nacken. Wer war
denn hier die Prinzessin, und wer die Dienerin?
Also bedachte sie die andere mit einem herablassend
giftigen Blick und stolzierte in die entgegengesetzte Ecke.
Imibe schaute der Nor finster hinterdrein – sie mußte
sich doch noch an den Zorn und die heftig tadelnden
Worte des Sternenmanns erinnern können – und schaute
dann rasch nach den beiden ihr Anvertrauten. Flußstern
strampelte auf ihrer Decke, und Caelum … Der Knabe
starrte Kassna an, als würde die Frau jeden Moment in
Flammen aufgehen. Aus seinem Gesicht war alle Farbe
gewichen, und in seinen Augen stand die nackte Angst.
Die Rabenbunderin begab sich sofort zu dem Kleinen,
nahm ihn auf und herzte und beruhigte ihn.
Vielleicht wäre es das beste, wenn sie auch noch das
Mädchen nähme und sich mit den beiden entfernte.
Drachenstern drehte den Kopf so weit nach hinten, wie
es ihm nur möglich war, damit er feststellen konnte, was
Imibe nun unternahm. Aha, Caelum hatte sie also schon
hochgehoben. Aber was nun? Wollte sie etwa mit ihm
den Turm verlassen?
Der Kleine kochte vor Zorn und wand sich so heftig in
Kassnas Armen, daß sie besorgt nach ihm schaute.
Eingehüllt und verborgen in seinen Umhang der Dunklen
Magie überflog Gorgrael auf seinem Greifen den blauen
Dunst, der Sigholt wie eine Dunstglocke umschloß.
Verwünscht sei mein elender Bruder für diesen Nebel,
fluchte er in Gedanken. Aber trotz des Schutzzaubers
nahm er die Gedanken und Empfindungen der Bewohner
von Sigholt wahr … und er stieß auch auf den Geist des
Verräters.
Ich bin es. Ist alles bereit?
Drago beruhigte sich wieder, und die Nor lächelte erleichtert.
Sputet Euch!
Aber die Brücke …
Laßt Euch ihretwegen keine grauen Haare wachsen.
Den Steg kann man leicht übertölpeln.
Und der Zerstörer lächelte.
Imibe setzte Caelum ab, damit sie Flußstern in ihre Dekke einwickeln konnte. Wenigstens hielt die Nor mit dem
bösen kleinen Buben Abstand. Langsam beruhigte sich
die Rabenbunderin. Sie verfügte natürlich längst nicht
über die Fähigkeiten und Talente der Zauberin – und
nicht einmal über die ihres Häuptlings –, aber sie spürte
das Böse selbst auf große Entfernung. Und von diesem
kleinen Burschen dort ging etwas wahrhaft Teuflisches
aus, das ihr gar nicht gefallen wollte.
Die Nor legte Flußstern, die mit einem Mal merkwürdig verkrampft wirkte, in ihr Körbchen und drehte sich
zu Caelum um.
Gorgraels Mund öffnete sich zu einem unhörbaren
Schrei, als er durch Wolken und Nebel nach unten
stieß.
Seid Ihr reinen Herzens? stellte die Brücke ihm
sogleich ihre berühmte Frage.
Ich … ich … Was verstand dieser Steinbogen denn unter »rein«?
Brücke? Ich bin es, Drachenstern, der Sohn des Axis
und der Aschure. Vor Euch steht mein Freund. Er ist
ganz reinen Herzens, bestimmt. Vertraut mir, und laßt
ihn hinüber.
Darüber mußte der Steg erst einmal nachdenken. Warum konnte der Fremde nicht für sich selbst antworten?
Jawohl, so etwas war doch nicht vorgesehen.
Vertraut mir, flüsterte Drachenstern in ihre Gedanken,
und die Brücke dachte daran, welch reinen Herzens doch
die Eltern des Knaben waren … wie sehr die beiden sie
immer achteten … wie sie ihr sogar Freundschaft entgegenbrachten …
Vertraut mir.
Die Brücke überlegte, ob sie dem Fremden noch einmal die Frage stellen sollte …
Vertraut mir!
… entschied sich dann aber dagegen. Schließlich würde es doch keinem Feind gelingen, seinen Weg durch den
blauen Dunst zu finden, nicht wahr?
Gorgrael flog weiter und folgte dem Gedanken, den der
Verräter ihm wie einen Strahl schickte. Wieviel Macht
sein seltsamer Verbündeter doch besaß, sagte er sich,
kam dann aber nicht mehr dazu, den Gedanken weiterzuverfolgen
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