Die Gottin des Sternentanzes - Unter dem Weltenbaum 06
geiferndem Fanatismus an. Nein, für diese Männer und
Frauen gab es keine Hoffnung mehr. Langsam durchschritt sie den Raum, blieb vor dem Gitter stehen und
betrachtete die Gesichter der Menschen, bei denen sie
aufgewachsen war; der Menschen, die mit Hagen gemeinsame Sache gemacht hatten, um sie zu quälen und
zu mißhandeln.
Ein Mann griff durch die Eisenstäbe nach ihrer Brust.
Aschure fuhr zurück und erinnerte sich daran, daß dieser
Wainwald zu den hartnäckigsten der Jünglinge gehört
hatte, die sie mit lüsternen Blicken verfolgt und betatscht
hatten.
»Hure«, knurrte er jetzt. »Mit solchem Aufzug bettelt
Ihr geradezu darum, genommen zu werden. Nun kommt
schon her!«
Ein weiterer Mann streckte nun gierig eine Hand nach
ihr aus. Aschure entfernte sich zwei Schritte von ihnen.
Früher hatten sie sich schon schlimm aufgeführt, aber
heute gebärdeten sie sich wie Tiere.
Die Jägerin schritt das Gitter ab, bis sie auf die Bäuerin Garland stieß. Die Frau war über sechzig Jahre alt,
und gewiß konnte sie sich noch erinnern, wo …
»Wo befindet sich das Grab meiner Mutter?« fragte
sie und trat nahe genug heran, um ihre Finger in das
Frauenwams der Bäuerin zu versenken und daran zu ziehen. »Wo hat Hagen sie beerdigt?«
Frau Garland verzog erst angewidert das Gesicht, erstarrte dann aber vor Schrecken, als Aschures Macht wie
mit eisigen Fingern in ihren Geist drang.
Wo? Wo? Wo?
Die Bäuerin wimmerte, und ihre Miene verzerrte sich
vor Schmerz.
Wo? Wo? Wo?
»Er hat das Luder unter dem Boden im Hühnerstall
verscharrt«, kam es gepreßt aus Frau Garland heraus, und
schon vermochte sie wieder gehässig zu grinsen. »Stellt
Euch das nur vor, Eure Mutter liegt unter der Hühnerscheiße von vierundzwanzig Jahren begraben. Hätte sie
eine passendere letzte Ruhestätte finden können?«
Aschure ließ sie los und trat mit unbewegtem Gesicht
zurück. Die Bäuerin hatte die Wahrheit gesprochen, das
spürte sie, und mehr als die Wahrheit hatte sie auch gar
nicht von ihr verlangt. Die Beleidigungen trafen sie
nicht.
Jetzt nicht mehr.
Die Jägerin nickte, und ihr Blick wanderte über die
Versammlung der Dorfbewohner. Die Frauen hielten mit
ihrer Verachtung nicht hinter dem Berg, während die
Männer sie am liebsten gleich besprungen hätten. Selbst
die Kinder starrten sie mordlüstern an.
»Ich wünsche Euch allen viel Glück im Nachleben«,
erklärte Aschure, »denn das könnt Ihr sicher gut gebrauchen.«
Damit wandte sie sich ab und verließ den Keller.
Sie schickte die Hunde und den Hengst fort zu Faraday
und ihren Gefährtinnen, und wanderte ganz allein durch
den Ort. Sie band die Tiere los, auf die sie stieß, öffnete
Stalltüren und Verschläge, damit auch alle entkommen
konnten. Bei den Sternen am Himmel, dachte die Jägerin,
sie haben sich ihre Freiheit wirklich verdient.
Schließlich erreichte sie den Hühnerstall. Eine ziemliche Strecke vom Haus des Pflughüters hinter der Bethalle
bis zu dieser Stelle. Hagen mußte sich ganz schön damit
abgeplagt haben, Niah bis zu diesem Stall zu schleppen.
Aber vielleicht hatte er ja Hilfe gehabt. Gut möglich
auch, daß ihn die Sorge vor dem Gestank von der verrottenden Leiche seiner Frau mit neuer Kraft erfüllt hatte.
Genau das hätte ihm ähnlich gesehen.
Aschure blieb lange vor dem Hühnerstall stehen und
betrachtete ihn.
Erst als der Wind ihr über das Gesicht wehte, wurde
ihr bewußt, daß sie weinte.
Weiche Arme umschlossen sie – Faraday.
»Ganz ruhig«, sprach sie sanft und wiegte die schluchzende Freundin. »Ganz ruhig. Liegt hier Eure Mutter?
Weint nur, Aschure, wenn Euch das gut tut. Und wenn
die Tränen versiegt sind, werden wir gemeinsam diesen
Schuppen in eine Stätte verwandeln, die Eurer Mutter
würdig ist.«
»Ach, Faraday«, weinte die Jägerin fassungslos, »so
etwas hat sie doch nicht verdient!«
»Niemand von uns hat all das verdient, was uns widerfährt, aber manche Mütter ruhen ungeliebt von ihren Angehörigen in der Erde und diese hier wurde geliebt. Von
Euch.« Die Edle strich der jungen Frau über das Haar.
»Kommt, trocknet Eure Tränen. Was habt Ihr mit Smyrdon vor?«
»Ich will es zerstören«, antwortete Aschure rauh und
wischte sich über die Augen. »Aber warum seid Ihr denn
noch einmal zurückgekehrt? Hatte ich Euch nicht aufgetragen, vor dem Ort zu warten?«
»Ihr habt mich gebraucht, Aschure. Sollen wir jetzt zu
den anderen gehen?«
Die Jägerin nickte, und Hand in Hand liefen die beiden Frauen
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