Die Gottin des Sternentanzes - Unter dem Weltenbaum 06
gepackt hatte. Eine Kralle hatte den
Arm aufgerissen, und der Knabe selbst hatte das Bewußtsein verloren. Gorgrael aber schrie bei diesem Anblick
seinen Sieg über ganz Sigholt hinaus.
»Weh und Ach! Weh und Ach!« klagte die Brücke.
Aber für eine Rettung war es bereits viel zu spät. Als
die ersten Ikarier oben auf dem Turm landeten, hatte sich
der Zerstörer längst auf seinem Greifen in den blauen
Nebel verzogen.
Die Vogelmenschen entdeckten den zerrissenen Körper der Rabenbunderin Imibe, fanden die Nor Kassna, die
wie von Sinnen war und in einer Ecke kauerte, hörten das
Geschrei der beiden alleingelassenen Zwillinge und vernahmen den Nachhall von Caelums Entsetzen, das sich
noch tagelang oben auf dem Turm halten sollte.
14 B ARDENMEER
Aschure befiel ein starkes Zittern, und ihr Magen verkrampfte sich. Aber dieser Moment verging ebenso
rasch, wie er gekommen war. Und so schaute sie wieder
zu Faraday hinüber.
Die Edle kniete fünfzig Meter vor dem Eingang zum
Verbotenen Tal auf dem weichen Boden. Vor ihr toste
und donnerte der Nordra durch die Schlucht. Hinter ihnen erstreckte sich zweieinhalb Meilen weit die Ebene
bis hin zum Waldrand. Schößlinge schwankten fröhlich
zwischen dem Forst und der Baumfreundin. Diese aber
betrachtete den Setzling, den sie gerade in die Erde gelassen hatte, und wünschte ihm alles gute.
Aschure begab sich zu ihrer Freundin und kniete sich
neben sie hin. Sie war sehr in Sorge. Die Edle fühlte sich
offensichtlich alles andere als wohl. Immer wieder hielt
sie sich die Seite oder den Rücken, so als plagten sie dort
Schmerzen.
»Faraday«, fragte die junge Frau erschrocken, »was ist
mit Euch?«
»Mir geht es gut, keine Sorge«, lächelte diese fröhlich.
Nein, dieses Lächeln war ihr viel zu rasch auf die Lippen
gekommen und wirkte auch übertrieben. Das wollte
Aschure überhaupt nicht gefallen. »Seht nur«, fuhr die
Edle aber bereits fort, »wir haben das Verbotene Tal erreicht. Mein Werk ist bald getan.«
Aber auf ihre Freude erhielt sie nur Schweigen zur Antwort. Aschure wußte nicht so recht, was sie darauf entgegnen sollte, und suchte schließlich hilfesuchend den Blick
der Bäuerin. Hinter Frau Renkin stand Schra und hielt sich
an deren Schürze fest. Beide, die alte Bäuerin wie auch das
kleine Mädchen, hatten einen merkwürdigen Ausdruck im
Gesicht. Die anderen Awarinnen befanden sich ein gutes
Stück entfernt, denn Faraday hatte sich nur von Aschure,
Frau Renkin und Schra begleiten lassen wollen.
»Noch ein Bäumchen«, flüsterte die Edle, kam mühsam hoch und schwankte bedenklich, als sie wieder auf
ihren Füßen war. Aschure wollte sie stützen, aber Faraday wehrte sie ab. »Bitte, den letzten Setzling schaffe ich
auch noch.«
Sie nahm den Schößling aus der Hand der Bäuerin.
»Mirbolt«, bemerkte sie dazu, »die letzte Magierin, die
von den Awaren ging. Und damit auch die letzte, die in
den Boden kommt.«
Aschure starrte auf das Pflänzchen. Sie hatte die Magierin noch kennengelernt; denn diese war bei dem Angriff der Skrälinge auf den Hain des Erdbaums ums Leben gekommen. Mirbolt war auch diejenige ihres Volkes
gewesen, die die Beratung darüber eröffnet hatte, ob die
junge Ebenenläuferin bei ihnen aufgenommen werden
solle. Die Awaren hatten sich damals dagegen ausgesprochen, aber Aschure trug Mirbolt das nicht nach. Sie
war eine stolze und schöne Magierin gewesen, die es
nicht verdient hatte, auf solche Weise den Tod zu finden.
»Mit erscheint es passend, daß Mirbolt diejenige sein
wird«, bemerkte die Zauberin, »die den neuen Wald mit
Awarinheim verbindet.«
Das entlockte Faraday ein leises Lächeln. »Ihr wißt so
viel, meine Liebe. Ja wirklich, dieses Recht steht allein
Mirbolt zu.«
»Wo wollt Ihr sie einsetzen?« fragte die junge Frau
und blickte ins Tal. Steil ragten dort die Felswände auf
und ließen nur wenig Platz zwischen sich. Der einzige
Pfad über den wilden Strom führte über die Klippen und
schien sehr schmal zu sein.
Die Edle betastete den Setzling vorsichtig, und ihre
Augen verschleierten sich. »Am Taleingang, meine Liebe. Mehr bedarf es nicht.« Ihre Miene hellte sich auf, als
sie den Ausdruck auf Aschures Gesicht sah. »Wartet’s
nur ab, dann werdet Ihr es schon sehen.«
Faraday machte sich auf den Weg, kam jedoch nur
mühsam und unbeholfen voran und mußte alle sieben
oder acht Schritte innehalten.
»Bäuerin!« rief Aschure dringlich. »Sie wird noch …«
»Die Baumfreundin tut nur das,
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