Die Gottin des Sternentanzes - Unter dem Weltenbaum 06
blaue Flecken, aber er schlief jetzt ganz friedlich. Und er
schien auch kein Fieber zu haben.
Die junge Frau streichelte ihm zärtlich die Wange. »Es
geht ihm gut, Rivkah. Besser, als ich hoffen durfte. Seine
Ängste und üblen Erinnerungen werden im Lauf der Zeit
verblassen.«
Der Knabe regte sich leicht und schien trotz der geschlossenen Augen seine Mutter anzusehen. Ich werde
nie vergessen, wie Ihr da im Mondlicht gestanden habt.
Wie Ihr lächeltet und die Hände nach mir ausstrecktet.
»Aber wie ist das möglich?« wollte seine Großmutter
wissen.
Aschure schüttelte den Kopf. »Ein Traum, Rivkah,
mehr nicht. Der Mond besaß letzte Nacht noch mehr
Macht als gewöhnlich und beeinflußte die Träume von
sehr vielen Menschen.«
Rivkah verkniff sich ihre harschen Worte, denn sie
kannte diesen Tonfall nur zu gut. Dreißig Jahre hatte sie
unter den Vogelmenschen gelebt, und es entsprach eben
ihrer Art, in Bildern und geheimnisvollen Andeutungen
zu sprechen, wenn sie jemandem keine ausführliche
Antwort geben wollten.
Wie immer Aschure das auch angestellt haben mochte,
sie hatte auf jeden Fall Gorgrael überlistet.
Und so sagte sie nur: »Da bin ich aber froh, meine
Schwiegertochter.«
Aschure hob den Blick von ihrem Sohn. »Danke, Rivkah.«
»Und was habt Ihr jetzt vor?«
»Nun werde ich herausfinden, wie es dem Zerstörer
gelungen ist, durch Sigholts Verteidigungsanlagen zu
gelangen.« Sie erhob sich und hielt ihren Sohn Rivkah
hin. »Setzt Euch ein wenig zu Eurer Großmutter …«
Die Zauberin konnte nicht weitersprechen, weil der
Junge in diesem Moment einen furchtbaren Schrei ausstieß. Er klammerte sich verzweifelt an seine Mutter, und
ihr blieb nichts anderes übrig, als ihn wieder auf die Arme zu nehmen und zu beruhigen. Doch dabei blickte sie
ihre Schwiegermutter an.
»Er möchte wohl nicht, daß Ihr ihn noch einmal allein
laßt«, bemerkte Rivkah freundlich.
Aschure nickte und verließ mit ihrem Sohn auf dem
Arm die Halle.
»Er ist wieder da!« rief die Brücke mit einer Begeisterung, die durch die ganze Burg widerhallte.
Tja, sagte sich die junge Frau, alles bekommt der Steg
wohl auch nicht mit. »Ja, Brücke, Caelum ist wieder zu
Hause.«
»Geht es ihm gut?«
Aschure runzelte die Stirn. Die Brücke klang reichlich
unsicher. »Den Umständen entsprechend, ja.«
Der Kleine hatte sich mittlerweile wieder beruhigt,
hing aber immer noch an seiner Mutter und würde jeden
Moment einschlafen.
»Das freut mich aber«, entgegnete der Steg demütig,
»denn ich trage die Schuld an seiner Entführung.«
Die junge Frau schwieg und wartete auf weitere Erklärungen. Schließlich war sie mit der Absicht zu der Brükke gekommen, mehr darüber zu erfahren, wie der Zerstörer hier hatte eindringen können, ohne auf sich
aufmerksam zu machen und die gesamte Garnison auf
die Beine zu bringen.
»Ich hätte dem Eindringling, dem Entführer, meine
Frage stellen sollen.«
»Und warum habt Ihr das unterlassen?«
»Ach, oh weh, es ist alles meine Schuld«, jammerte
der Steg. »Weh und weh und dreimal weh!«
Aschure zügelte ihre Ungeduld. »Caelum ist jetzt wieder da, und irgendwann wird er auch die Erinnerung an
all die Schrecken überwunden haben. Aber er und auch
ich wollen sicherstellen, daß so etwas nie wieder geschehen kann. Also, warum habt Ihr Gorgrael nicht angerufen?«
»Der Zerstörer?« Die Brücke erbebte in ihren Grundfesten. »Gorgrael hatte den Jungen verschleppt?«
»Ja, ganz recht, Brücke.«
»Oh weh und ach, was habe ich nur getan! Ich habe
elendiglich versagt, Zauberin. Euch gegenüber und auch
dem Knaben, der so vertrauensvoll in Euren Armen
ruht.«
»Warum habt Ihr ihm nicht Eure Frage gestellt?«
Jetzt schwieg der Steg, und es dauerte einige Zeit, bis
er wieder sprach. »Weil ich ihm vertraut habe«, murmelte er dann.
»Ihr habt dem Zerstörer vertraut?«
»Nein, ja, nein«, jammerte die Brücke, »zwingt mich
bitte nicht, Euch die Wahrheit zu sagen, Herrin!«
»Berichtet sie mir auf der Stelle, sonst reiße ich Euch
auseinander!«
»Ich … ich … ich spürte den Fremden aus dem Himmel herabsteigen, Zauberin, und wollte ihm schon meine
Frage stellen, als … aber … weil …«
»Aber was?«
»Aber da teilte Euer Sohn mir mit, daß der Besucher
reinen Herzens und ein Freund sei. Da habe ich natürlich
nicht widersprochen, sondern seinen Worten vertraut.«
Aschure verzog ungläubig das Gesicht. »Caelum hat
Euch gesagt, Gorgrael sei reinen Herzens?«
»Nein, aber nein,
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