Die Grabgewoelbe von Yoh-Vombis - Gesammelte Erzaehlungen Band 2
unbestimmte Weise, die sich jeder Erklärung entzog und die von intimerer Natur war als sein Unbehagen über den lange zurückliegenden dunklen Fleck auf dem Familiennamen, hatte Sir Roderick die Empfindung, dass diese Angelegenheit auch ihn selbst anging. Eine schreckliche, angstbeladene Unruhe hatte Besitz von ihm ergriffen, ja sein Identitätsgefühl selbst war erschüttert worden. Er trieb haltlos auf einem Meer elender Verunsicherung, chaotischer Gedanken und ins Wanken gebrachter Erinnerungen. In dieser eigentümlichen Geistesverfassung folgte er einer unwillkürlichen Anwandlung, schaltete die Stehlampe neben seinem Sessel ein und begann damit, das Manuskript ein zweites Mal zu lesen.
Fast schon in der beiläufigen Art einer modernen Kurzgeschichte begann die Erzählung mit einem Bericht über die erste Begegnung des damals dreiundzwanzigjährigen Sir Roderick mit Elinor D’Avenant, die später seine Frau werden sollte.
Diesmal bemächtigte sich während des Lesens eine sonderbare Sinnestäuschung des Baronets der Gegenwart. Er wähnte, dass die Worte dieser alten Handschrift unter seinem gebannten Blick zu flackern und sich zu verändern anfingen; dass unter den schwarzen Schriftzeilen auf vergilbtem Pergament das Bild eines realen Ortes Gestalt annahm. Der Manuskriptbogen dehnte sich aus, die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen und wuchsen ins Riesenhafte an. Sie schienen mitten in der Luft allmählich zu verblassen, und das Bild dahinter war nicht länger mehr ein Bild, sondern der genaue Schauplatz der Erzählung.
Als wären die Sätze eine nekromantische Zauberformel, war das Bibliothekszimmer um Sir Roderick verschwunden wie das Gemach aus einem Traum, und er stand unter dem sonnig erhellten Himmel einer windigen Heidelandschaft. Bienen umsummten ihn und er atmete den Duft von Heidekraut ein. Sein Bewusstsein war auf unbeschreibbare Weise gespalten: Irgendwo, so erinnerte er sich, las ein Teil seines Gehirns noch immer den alten Bericht – doch der übrige Teil seiner Persönlichkeit war mit jener des ersten Sir Roderick Hagdon verschmolzen. Infolgedessen lebte er, ohne Überraschung oder Verwunderung darüber zu empfinden, in einer längst vergangenen Epoche, und er besaß die Wahrnehmung und Erinnerungen eines Vorfahren, der seit vielen Menschenaltern tot war.
Darauff war Sir Roderick Hagdonne, der in seiner Jugend Blüte gestanden, augenblicks in Liebe zu der schönen Elinore D’Avenant entbrannt, als er sie an einem Morgen des Aprilis auf der Hagdonne=Heide angetroffen.
Sir Roderick bemerkte, dass er auf der Heide nicht allein war. Über den schmalen Fußpfad, der sich durchs Heidekraut schlängelte, spazierte eine Frau auf ihn zu. Obwohl sie in die althergebrachte Damenrobe und das Mieder jener Zeit gekleidet war, wirkte sie irgendwie fremd und exotisch in jener vertrauten englischen Landschaft. Es handelte sich um die Frau auf jenem Porträtgemälde, das er in einem späteren Leben, als ein anderer Sir Roderick, in einer Geheimkammer des Herrenhauses entdeckt hatte (doch hatte er dies, wie auch manch anderes, jetzt vergessen). Wie sie mit träger Anmut inmitten der schlichten Heideblüten dahinschlenderte, glich ihre Schönheit der Schönheit einer üppigen und unheilvollen Lilie aus dem Reich der Sarazenen. Niemals, so glaubte er, hatte er eine Frau gesehen, die auch nur halb so fremdartig und lieblich schien.
Er stand am Wegesrand im spröden Heidegras und verbeugte sich mit ritterlicher Galanterie, als sie vorüberging. Sie erwiderte seine Geste mit einem leichten Nicken und schenkte ihm ein unergründliches Lächeln und ein verstohlenes Funkeln ihrer dunklen Augen. Von da an war Sir Roderick ihr mit Leib und Seele verfallen. Er starrte ihr nach, während sie über die Kuppe der Heideböschung aus seinem Blickfeld entschwand. Er fühlte das Anwachsen einer unwiderstehlichen Flamme in seinem Herzen und den Stachel heißer Sinnenlust und Neugier. Mit jedem Zug heimatlicher Luft, den er in seine Lungen sog, schien er die Würze eines schwülen, fremdartigen Duftes einzuatmen. Er ging weiter und sann in argloser Verzückung über die dunkle, rätselvolle Schönheit jenes Antlitzes nach, das er soeben erblickt hatte.
Von nun an schien Sir Roderick in seinem sonderbaren nekromantischen Traum die Ereignisse eines halben Jahrzehnts zu erleben, oder eher: nachzuerleben. Irgendwo in einem anderen Dasein überflog ein anderes Selbst von ihm gebannt die Absätze, worin diese Ereignisse
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