Die Graefin Charny
Glückes begrüßt worden war?
Jene glückliche Zeit lag weit hinter dem unglücklichen Ludwig XVI. Jetzt saß er in einem schlechten Wagen, der im Schritt durch die sich herandrängende neugierige Pöbelmasse fuhr; er blinzelte, weil seine Augen das helle Tageslicht nicht mehr vertrugen; sein dünner blonder Bart war mehrere Tage nicht geschnitten; seine Wangen hingen schlaff herab – kurz, wer hätte in dem Manne mit dem grauen Frack und dem nußbraunen Überrock den einst so mächtigen König erkannt!
Als der König im Temple ankam, war sein erstes Verlangen, zu seiner Familie geführt zu werden.
Man antwortete ihm, es sei über diesen Punkt kein Befehl erteilt worden.
Ludwig XVI. sah wohl ein, daß ihm jeder Verkehr mit andern Menschen untersagt war.
»Setzen Sie wenigstens die Königin von meiner Rückkehr in Kenntnis«, sagte er.
Dann setzte er sich und las, ohne sich um die ihn umgebenden vier Kommissare zu kümmern.
Der König hatte noch eine Hoffnung, nämlich, daß seine Familie zum Souper zu ihm kommen werde. Aber er wartete vergebens, niemand erschien.
»Aber mein Sohn wird wenigstens die Nacht bei mir zubringen?« fragte der König; »seine Sachen sind ja hier.«
Diese Frage wurde ebensowenig beantwortet wie die andern.
»Nun, dann will ich zu Bett gehen«, sagte Ludwig XVI.
Am andern Morgen richtete die Königin zum erstenmal eine Bitte an ihre Hüter. Sie verlangte zweierlei: den König zu sehen, und Zeitungen zu erhalten, um von dem Gange des Prozesses unterrichtet zu sein.
Diese beiden Begehren wurden vor den Gemeinderat gebracht. Das eine Begehren, das sich auf die Zeitungen bezog, wurde rundweg abgeschlagen; das andere wurde halb bewilligt.
Die Königin konnte ihren Gemahl nicht mehr sehen; aber die Kinder durften ihren Vater sehen, unter der Bedingung, daß sie von Mutter und Tante getrennt wurden.
Man setzte den König von diesem Ultimatum in Kenntnis.
Ludwig XVI. sann einen Augenblick nach, dann sagte er mit der ruhigen Ergebung, die ihm so leicht wurde:
»Nein, ich will auf diese Freude verzichten, wie sehr ich mich auch nach meinen Kindern sehne.«
Man mußte nun auf ein Mittel sinnen, trotz der strengen Haft miteinander zu verkehren. Der treue Clery übernahm es wieder, mit Hilfe eines Dieners der Prinzessinnen, namens Turgy, diesen Verkehr zu vermitteln.
Das Gespräch zwischen den beiden Dienern beschränkte sich meist auf folgende Worte:
»Der König befindet sich wohl.«
»Die Königin, die Prinzessin und die Kinder befinden sich wohl.«
Eines Tages jedoch steckte Turgy dem Kammerdiener des Königs ein kleines Billett zu. »Madame Elisabeth hat es mir in ihrer Serviette gereicht«, sagte er.
Clery begab sich eilends zum König, um ihm das Billett zu übergeben. Es war mit Stecknadelstichen punktiert; denn die Prinzessinnen hatten schon seit langer Zeit keine Schreibmaterialien mehr.
Das Billett enthielt folgende Worte:
»Wir befinden uns wohl, Bruder; schreiben Sie uns auch.«
Der König antwortete auf die gleiche Weise, denn seit der Eröffnung des Prozesses hatte man ihm Federn, Tinte und Papier wiedergegeben.
Dann übergab er den Brief unversiegelt seinem Kammerdiener.
Zehn Minuten nachher hatte Turgy die Antwort.
An demselben Tage ging Turgy an dem Zimmer Clerys vorüber und warf durch die angelehnte Tür einen Knäuel Zwirn hinein. Dieser Knäuel enthielt ein zweites Billett der Prinzessin Elisabeth. Es war ein verabredetes Mittel.
Clery wickelte den Zwirn um ein Billett des Königs und legte den Knäuel in den Porzellanschrank. Turgy nahm ihn heraus und legte die Antworten an denselben Ort. Aber so oft als ihm sein Kammerdiener einen neuen Beweis von Treue oder Gewandtheit gab, schüttelte der König den Kopf und sagte:
»Nehmt euch in acht, Freunde, ihr bringt euch in Gefahr ...«
Das Mittel war in der Tat zu gewagt; Clery sann auf ein anderes.
Die Kommissare pflegten dem König die Wachskerzen in Paketen zu bringen. Clery bewahrte den Bindfaden sorgfältig auf, und als er eine hinlängliche Menge hatte, zeigte er dem König an, daß er ein Mittel habe, seine Korrespondenz lebhafter zu machen.
Er übermittelte der Prinzessin Elisabeth den Bindfaden; die Prinzessin, die über ihm schlief und deren Fenster gerade über einem zu Clerys Fenster führenden kleinen Korridor war, konnte in der Nacht ihre Briefe an den Bindfaden hängen und auf demselben Wege die Briefe des Königs erhalten. Überdies konnte man an diesem Bindfaden Federn, Papier und Tinte
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