Die Graefin der Woelfe
Erfahrung wussten sie, dass er nun mehrere Wochen nicht im Schloss weilen würde. Zeit genug, um die Gräfin auf den Weg der Besserung zu bringen.
Amalias Anfälle wurden seltener, dafür wurde die Trauer tiefer. »Wie lange ist es her?«, fragte sie an einem schönen Frühlingstag, wenige Tage, nachdem Erasmus aufgebrochen war.
»Er ist nun seit vier Tagen weg und wird erfahrungsgemäß erst in etwa drei Wochen wieder hier sein.«
»Nein, ich mein etwas anderes.« Amalia schwieg, Tränen traten ihr in die Augen. »Wie lange ist es her, seitdem mein Kind nicht mehr bei mir ist? Sag mir, wie alt ist Elena jetzt?« Das Weinen nahm ihr die Stimme. Sie schluchzte und konnte sich kaum beruhigen. Eine Mutter, die nicht wusste, wie alt ihr Kind war.
»Elena ist jetzt vier Jahre alt, Prinzessin. Sie ist noch klein. Sie wird es nicht merken.«
Marijke wusste, dass sie log. Die kleine Komtess war nun in dem Alter, in dem Amalia gewesen war, als sie einander zum ersten Mal begegneten und sie erinnerte sich noch gut daran, wie tief die Sehnsucht der kleinen Prinzessin nach ihrer Mutter gewesen war.
»Ich habe große Fortschritte gemacht, nicht wahr? Ich werde bald stark genug sein, um sie zu besuchen. Sie kennt mich doch gar nicht, sie muss mich ja erst wieder kennenlernen.« Amalia blickte ihr treuherzig ins Gesicht, die Augen endlich wieder klar, die Pupillen klein und dunkel.
»Ja, Prinzessin, das wird sie, ganz sicher.«
Amalia erhob sich und stellte sorgfältig ihre Füße nebeneinander auf den Boden. »Hilf mir hoch, Marijke, dass ich aufstehen kann. Ich muss wieder laufen, ich muss zu meinem Kind.«
»Warten Sie.« Fest zog Marijke an der Klingelschnur und kurz darauf kam Lucia atemlos die Treppe hinaufgehastet. »Sie will aufstehen. Hilf mir.« Sie packten Amalia links und rechts an den Armen, doch die Gräfin konnte kaum auf den Beinen stehen.
Seit Monaten verließ sie das Bett nur zur morgendlichen Toilette, und da sie inzwischen so leicht geworden war, konnte Marijke sie fast ohne ihr Dazutun auf den gut gepolsterten Toilettensitz heben.
Jetzt blickte die Gräfin ungläubig an ihren Beinen hinab und jammerte: »Ich kann nicht laufen.«
»Sie brauchen Zeit, und Ihre Beine brauchen wieder Kraft.«
*
Erasmus war wieder einmal zu Fuß unterwegs. Er hatte einige Patienten besucht und war nun auf dem Weg nach Krumau, wo er, wie er es zweimal im Jahr zu tun pflegte, die Tochter seines Freundes und Schwester Suzanna besuchen wollte. Die fromme Schwester war ganz anders als all die anderen verwerflichen Vertreterinnen ihres Geschlechts, die er kannte. Diese Frau war gradlinig, konsequent und klug. Alles seltene Eigenschaften für eine Frau. Gleichzeitig war sie keusch und anmutig, uneitel und elegant. Wären alle Frauen wie sie, wäre die Welt ein besserer Ort.
Wie es seiner Gewohnheit entsprach, führte sein erster Weg entlang der Friedhofsmauer, wo die Reste der Vampire in ihren Särgen vermoderten.
Erasmus verspürte auch Jahre nach den Vorfällen in Krumau und Zwinzau ein Gruseln, wenn er an den Gräbern der Verdammten vorüberging. Niemand wusste genau, ob die auf diese Weise Verstorbenen je das Antlitz des Herrn erblicken würden, zumal ihre Gebeine hier in Krumau nicht einmal mehr in geweihtem Boden ruhten. Dies war dem Jäger erspart geblieben. Niemand in ganz Zwinzau hatte sich bereit erklärt, sein Grab ein weiteres Mal zu öffnen, so war alles an Ort und Stelle geblieben.
Gut gelaunt trat Erasmus über die Schwelle des Klosters. Eine seltsame Stille umfing ihn. Sie war tiefer und düsterer, als sie es sonst an diesem heiteren Ort der Kontemplation zu sein pflegte. Auch die kleine Elena, die in der Regel wie ein Wirbelwind zwischen Dormitorium und Kirche umhersprang, war nirgends zu sehen. Erasmus trat in den dunklen Vorraum des Haupthauses und Schwester Eusebia kam ihm aus dem Halbdunkel entgegen.
»Guten Tag, Doktor. Sie kommen an einem traurigen Tag in unser Haus. Schwester Resa hört seit langer Zeit den Ruf des Herrn und nun ist sie bereit, ihm zu folgen.«
»Wo ist sie?« Erasmus war erschrocken, auch wenn damit zu rechnen war. Immerhin war Schwester Resa trotz aller Freundlichkeit und Güte, die sie im Umgang mit Wenzels kleiner Tochter an den Tag legte, die Älteste im Kloster. Ohnehin glaubten die Schwestern und selbst Mutter Suzanna, dass die Schwester ohne Elena längst bei ihren Ahnen ruhen würde.
»Sie liegt auf der Krankenstation. Doch es bleibt nichts mehr zu tun. Der
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