Die Grasharfe
Und: „Haben wir unser Leben gelebt?"
„Wir sind noch nicht tot", sprach er tröstlich zu ihr, aber das war so, als ob er dem fragenden Kind geantwortet hätte, daß die Sterne in den Raum fallen, eine unwiderlegbare, aber unbefriedigende Antwort. Dolly konnte sie nicht annehmen: „Nicht zu leben, dazu braucht man nicht tot zu sein. Zu Hause, in der Küche ist ein Geranium, das blüht und blüht. Viele Blumen blühen nur einmal, wenn überhaupt, und sonst geschieht nichts mit ihnen. Sie blühen, aber sie haben das Leben gelebt."
„Nicht du", sagte er und näherte sein Gesicht dem ihren, als wollte er, daß ihre Lippen sich berührten, doch dann schwankte er, als wage er es nicht. Der Regen hatte sich Gänge durch das Laubwerk gebrochen und rauschte mit voller Stärke herab. Kleine Bäche strömten von Dollys Hut, der Schleier klebte an ihren Wangen; fackernd ging die Kerze aus. „Nicht ich."
Unauförliche Blitze pulsten wie Feueradern durch den Himmel, und Verena, angeleuchtet von ihrem jähen Licht, schien mir eine Unbekannte zu sein, eine kummervolle, eine zerstörte Frau. Mit Augen, die noch enger standen als gewöhnlich, schien sie in eine innere Landschaf, in ein trostloses Land zu starren. Als die Blitze nachließen und das Rauschen des Regens uns mit seinen vielfältigen Lauten einkreiste, sprach sie, und ihre Stimme war so schwach und kam von so weit her, daß sie es kaum erwarten konnte, von einem von uns verstanden zu werden.
„Ich war neidisch, Dolly. Dein rosa Zimmer. Ich habe ja nur angeklopf an die Türen von solchen Zimmern und nicht of – nur gerade so of, daß ich heute weiß, niemand kann mir öffnen als du. Denn der kleine Morris, der kleine Morris – Gott helfe mir, ich liebte ihn, das tat ich. Nicht so, wie eine Frau liebt. Aber wir waren, oh, das muß ich eingestehen, verwandte Geister. Wir sahen uns in die Augen, wir erkannten denselben Teufel darin, wir waren nicht bange; es war – lustig war es. Aber er hat mich übertölpelt; ich habe geahnt, daß er das konnte, und ich hofe, er würde es nicht tun, und er hat's getan, und jetzt – ein Leben lang allein zu sein, das ist zu lang. Ich geh durch das Haus und nichts ist mein, weder dein rosa Zimmer, noch deine Küche, das Haus ist, glaube ich, dein Haus und auch Catherines Haus. Nur verlaß mich nicht, laß mich mit dir leben, ich fühle mich alt, ich will meine Schwester."
Der Regen, der Verenas Stimme begleitete, drängte sich dazwischen, zwischen Dolly und den Richter, und durch seine durchscheinende Wand sah er, wie ihre Gestalt sich auföste, wie sie ihm entwich, so, wie sie vorher mir entwichen war. Mehr als das, das ganze Baumhaus schien sich aufzulösen. Ein ungestümer Wind ergrif die aufgeweichten Reste unseres Kartenspieles, wehte sie mit unseren Papierresten über Bord; die Mürbeplätzchen zerkrümelten, die mit Regenwasser angefüllten Marmeladengläser liefen über wie Springbrunnen, und Catherines schöne Flickendecke war zerstört, nichts als eine Sudelei. Alles ging dahin, wie die zum Untergang verurteilten Hausboote mit der Flut weggetrieben werden; und es war, als bliebe der Richter darin eingesperrt, und er winkte uns, während wir, die Überlebenden, am Ufer standen. Denn Dolly hatte gesagt: „Verzeih mir; ich brauche auch meine Schwester", und der Richter konnte sie nicht mehr gewinnen, nicht mit seinen Armen, nicht mit seinem Herzen. Verenas Anspruch war zu endgültig gewesen.
Gegen Mitternacht ließ der Regen nach, und dann hörte er auf. Der orgelnde Wind trocknete die Bäume. Einzeln, wie verspätete Gäste auf einem Ball, erschienen Sterne am Himmel. Es war Zeit zu gehen. Wir nahmen nichts mit. Wir ließen die Decke vermodern, die Löfel verrosten; und das Baumhaus und die Wälder ließen wir dem Winter.
VII
E ine ganze Zeit lang hatte Catherine die Gewohnheit, den Zeitpunkt aller Ereignisse danach zu bestimmen, ob sie vor oder nach ihrer Verhafung stattgefunden hatten. „Das war vorher", betonte sie zum Beispiel, „ehe ‚Jene' einen Zuchthausvogel aus mir machte." Was uns andere betraf, so teilten wir untereinander die Zeit durch ähnliche Einschnitte in die Zeit vor dem Baumhaus und in die Zeit nach dem Baumhaus. Diese wenigen Herbsttage waren ein Markstein gewesen und ein Wegweiser.
Der Richter betrat sein Haus, das er mit seinen Söhnen und deren Frauen geteilt hatte, nur noch, um sich seine Sachen zu holen; das schien ihnen recht zu sein, jedenfalls erhoben
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