Die Grasharfe
sie keinen Einspruch, als er in Miß Beils Pension ein Zimmer mietete. Es war ein düsteres, feierliches Gebäude, das später von einem Spekulanten in ein Leichenhaus umgewandelt wurde, da einige Renovierungen sich als notwendig erwiesen hatten, um dem Haus ein einigermaßen entsprechendes Aussehen zu geben. Ich ging sehr ungern daran vorbei; denn die Gäste von Miß Bell, Damen, dornig wie unbetreute Rosensträucher in einem unordentlichen Garten, besetzten die Vorhalle von früh bis spät als wettlaufende Wächter der Tugend. Eine von ihnen, die zweimal verwitwete Mamie Canfeld, war in der Feststellung von Schwangerschaften erfahren. (Der Legende nach soll irgendein Ehegatte zu seiner Frau gesagt haben: „Warum verschwendest du das Geld an den Doktor? Geh einfach bei Miß Bell vorbei, Mamie Canfeld, die wird es bald genug unter die Leute bringen, ob du es bist oder nicht bist.") Ehe der Richter dort einzog, war Amos Legrand der einzige Mann, der bei Miß Bell residierte. Für die anderen Pensionäre war er von Gott gesandt. Die ihm geweihten Augenblicke des Tages kamen nach dem Abendessen, wenn Amos sich im Schaukelstuhl niederließ, mit seinen kurzen Beinchen, die den Fußboden nicht berührten, mit seiner Zunge, die wie eine Alarmglocke trillerte. Sie wetteiferten untereinander, ihm die Socken und die Sweater zu stricken und seine Diät zu überwachen, für ihn wurden die besten Bissen bei den Mahlzeiten reserviert. Miß Bell hatte Mühe, eine Köchin zu fnden, denn die Damen drängten sich dauernd in die Küche und wollten Leckerbissen zubereiten, um ihren Liebling zu verführen. Wahrscheinlich hätten sie dasselbe für den Richter getan, aber er kümmerte sich nicht um sie und hatte, wie sie erklärten, niemals Lust, die Zeit totzuschlagen.
Die letzte Nacht im Baumhaus, in der wir bis auf die Haut durchnäßt wurden, hatte mir eine böse Erkältung eingetragen, Verena eine noch schlimmere, und Dolly war unsere niesende Pfegerin. Catherine wollte nicht helfen. „Herzensdolly, wie es dir gefällt, leere du den Kehrichteimer von ‚Jener' aus, bis du verreckst. Aber rechne nicht damit, daß ich auch nur einen Finger krümme. Ich habe es satt, ich habe meine Last von mir geworfen."
Dolly stand zu jeder Stunde der Nacht auf und brachte uns Siruptees, die unseren Brustschleim lösten, und legte die Feuer nach, die uns warm hielten. Verena nahm diese Aufmerksamkeiten nicht einfach mehr als Dollys Pficht hin, wie sie es früher getan hatte. „Im Frühling", versprach sie Dolly, „werden wir zusammen verreisen. Wir können ins Grand Canyon gehen und Maudie Laura besuchen. Oder nach Florida – du hast das Meer noch nie gesehen." Aber Dolly war da, wo sie zu sein wünschte. Sie hatte kein Verlangen, zu reisen: „Es würde mich nicht freuen, Dinge zu sehen, die ich durch edlere Einsichten als Trug erkannt habe." Doktor Carter kam regelmäßig vorbei, um nach uns zu sehen, und eines Morgens fragte Dolly ihn, ob er wohl auch ihre Temperatur messen wolle; sie fühlte sich so heiß und schwach in den Beinen. Er schickte sie sofort ins Bett, und sie hielt es für sehr komisch, als er ihr mitteilte, daß sie eine ‚progressive Lungenentzündung' habe. „Progressive Lungenentzündung", sagte sie zu dem Richter, der sie besuchte, „das muß irgend etwas Neues sein, ich habe noch nie davon gehört. Mir ist, als ginge ich auf Stelzen und sänge himmelwärts wie eine Lerche. Wundervoll", füsterte sie und schlief ein.
Drei, beinahe vier Tage lang wachte sie niemals richtig auf. Catherine blieb bei ihr und nickte in einem Korbstuhl in steifer Haltung ein und knurrte leise, wenn Verena oder ich auf Zehenspitzen das Zimmer betraten. Sie bestand darauf, Dolly mit einem Bild von Jesus zu fächeln, als ob es Hochsommer wäre; und es war eine Schande, wie sie Doktor Carters Verordnungen mißachtete. „Das würde ich nicht an ein Schwein verfüttern", erklärte sie in bezug auf die Medizin, die er herübergeschickt hatte. Schließlich betonte Doktor Carter, er lehne jede Verantwortung ab, wenn die Patientin nicht in ein Krankenhaus gebracht würde. Das nächste Krankenhaus war in Brewton, sechzig Meilen weit entfernt. Verena bestellte von dort einen Krankenwagen. Sie hätte sich diese Ausgabe sparen können, denn Catherine sperrte Dollys Tür von innen ab und erklärte, der erste, der an der Klinke zu rütteln versuchte, würde selbst einen Krankenwagen brauchen. Dolly wußte nicht, wohin man sie schafen wollte; was
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