Die Grasharfe
zurück.
Er entzündete ein Kerzenstümpfchen, und unsere plötzlichen Schatten krümmten sich um uns wie vier Horcher. „Ich liebe es nicht, in der Finsternis zu sprechen", begann er. Er war nicht ohne Plan in dem aufrechten Stolz seiner Haltung; ich glaube, er wollte Verena dadurch zu erkennen geben, daß sie es mit einem Mann zu tun habe. Das war ein Faktum, das ihrer Erfahrung nach Männer selten genug betont hatten. Sie fand es unverzeihlich. „Du weißt es wohl nicht mehr, oder weißt du es doch noch, Charlie Cool? Es ist fünfzig Jahre her oder länger. Ein paar von euch Jungens stahlen die Brombeeren bei uns. Mein Vater erwischte deinen Vetter Seth, und ich erwischte dich. Du hast an dem Tag eine ganz schöne Tracht Prügel bezogen."
Der Richter erinnerte sich daran; er errötete, lächelte und sagte: „Du hast damals nicht ehrlich gekämpf, Verena."
„Ich habe ehrlich gekämpf", verwies sie ihn trocken. „Aber darin hast du recht, da keiner von uns es liebt, sich in der Finsternis zu unterhalten, wollen wir das auch jetzt nicht tun. Ofen gesagt, Charlie, du bist mir kein willkommener Anblick. Meine Schwester wäre nie auf einen solchen Blödsinn verfallen, wenn du sie nicht angestachelt hättest. Ich wäre dir dankbar, wenn du uns allein lassen würdest; dies hier ist in Zukunf nicht deine Sache."
„Aber sie ist es doch", beteuerte Dolly. „Weil der Richter Cool, weil Charlie …" ihre Stimme versagte. Zum erstenmal schien ihre Unerschrockenheit brüchig geworden.
„Dolly meint, daß ich sie gebeten habe, mich zu heiraten."
„Das ist", brachte Verena nach einigen unschlüssigen Sekunden hervor, „das ist", betonte sie, ihre behandschuhten Hände betrachtend, „bemerkenswert. Sehr bemerkenswert. Ich hätte keinem von euch soviel Phantasie zugetraut. Oder bin ich es, die sich etwas einbildet? Es ist durchaus möglich, daß ich mich selbst träume in einem nassen Baum in einer Gewitternacht. Nur, ich habe niemals Träume; oder vielleicht vergesse ich sie immer gleich. Ich schlage vor, daß wir diesen Traum hier alle vergessen."
„Ich gebe es zu, ich meine auch, es ist ein Traum, Miß Verena. Aber ein Mann, der nicht träumt, ist wie ein Mann, der nicht schwitzt – er häuf eine Menge Gif in sich an."
Sie beachtete ihn nicht; ihre ganze Aufmerksamkeit galt Dolly, und die von Dolly galt ihr. Es war, als seien sie allein, zwei Menschen in den entgegengesetzten Ecken eines öden Zimmers, Stumme, die sich in einer überspannten Zeichensprache verständigten, durch geheime Winke ihrer Augen; und dann schien es, als habe Dolly eine Antwort gegeben, eine, die jede Lebensfarbe in Verenas Gesicht auslöschte. „Ich verstehe. Du hast ihm dein Wort gegeben, ja?"
Der Regen war dichter geworden, Fische hätten in der Luf schwimmen können; wie ein Hämmern auf den Baßtönen eines Klaviers schlug er seine schwärzesten Akkorde an, und er strömte auf uns trommelnd wie ein Platzregen, der uns bedrohte, aber nicht erreichte. Tropfen sickerten durch die Blätter, aber das Baumhaus blieb wie ein trockenes Samenkorn in einer durstigen Pfanze. Der Richter schützte die Kerze mit der Hand; er wartete ebenso ängstlich wie Verena auf Dollys Antwort. Meine Ungeduld war nicht geringer als die ihre, aber ich fühlte mich vom Schauplatz verbannt und wieder als der Spion, der vom Dachboden hinunter spähte. Meine Sympathien waren seltsamerweise nirgendwo, oder besser, überall; eine Zärtlichkeit für alle drei rann in mir zusammen wie die Regentropfen, ich konnte sie nicht mehr trennen, diese Gefühle blühten auf für die ganze Menschheit.
Ebenso fühlte Dolly. Sie konnte keinen Unterschied mehr machen zwischen Verena und dem Richter. „Ich kann nicht", rief sie endlich, gemartert von der Schwäche, die sie nicht hatte berechnen können. „Ich dachte, ich würde wissen, was recht ist. Aber das ist nicht so – ich weiß es nicht. Wissen andere Menschen es? Wählen zu dürfen, dachte ich – ein Leben zu leben, das ich selbst entscheide …"
„Aber wir haben unser Leben gelebt", warf Verena ein. „Deines ist nicht so gewesen, daß du es bereuen müßtest; ich glaube nicht, daß du mehr begehrt hast, als du besaßest; ich habe es dir immer geneidet. Komm nach Hause, Dolly. Laß die Entscheidungen mir; das, weißt du, machte immer mein Leben aus."
„Ist das wahr, Charlie?" Dolly fragte, wie ein Kind fragen würde: „Wohin stürzen die fallenden Sterne?"
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