Die Grasharfe
besonders auf Schwester Ida: „Ich möchte gern mit meiner Schwester allein sprechen."
Mit einer Handbewegung, durch die sie Verena entließ, sagte Schwester Ida: „Seien Sie unbesorgt, Gnädige. Wir sind bereits unterwegs." Sie umarmte Dolly. „Gott segne dich, wir lieben dich. Tun wir das etwa nicht, Kinder?" Der kleine Homer sagte: „Komm mit, Dolly. Wir werden es schön haben. Ich werde dir meinen Silbergürtel schenken." Und Texaco Gasoline warf sich dem Richter um den Hals und fehte ihn an, auch mitzugehen. Mich schien niemand zu wollen. „Ich werde es euch niemals vergessen, daß ihr mich mitnehmen wolltet", sagte Dolly, und ihre Blicke eilten von einem zum anderen, als wollte sie sich die Gesichter genau einprägen. „Viel Glück! Addio! Lauf jetzt", ihre Stimme erhob sich über ein neues und näherkommendes Donnergrollen, „lauf, es regnet." Es war ein kitzelnder, federleichter Regen, wie eine feine Tüllgardine, in deren Falten Schwester Ida und ihre Familie verschwanden. Verena fragte: „Ist es möglich, daß du mit diesem Weib – gemeinsame Sache gemacht hast? Und das, nachdem sie deinen Namen in den Schmutz gezogen hat?"
„Ich glaube nicht, daß du mich beschuldigen kannst, mit jemand gemeinsame Sache gemacht zu haben", antwortete Dolly gelassen. „Besonders nicht mit solchen Bullen", hier verlor sie etwas die Selbstbeherrschung, „die Kinder bestehlen und alte Frauen ins Gefängnis schleppen. Auf einen Namen, mit dem man solchen Maßnahmen zustimmt, kann ich mir nicht viel einbilden. Er verdient es, dem Spott ausgeliefert zu werden."
Verena nahm das ohne Wimperzucken hin. „Du bist nicht bei dir", erklärte sie, als sei das ein klinischer Befund.
„Du solltest mich genauer ansehen, ich bin bei mir", Dolly schien zu einer Untersuchung bereit zu sein. Sie war ebenso groß wie Verena und ebenso sicher; nichts an ihr war unentschlossen und verschwommen. „Ich habe deinen Rat befolgt, ich meine den, meinen Kopf nicht hängen zu lassen. Du sagtest, das mache dich schwindelig. Und es sind erst ein paar Tage her", fuhr sie fort, „daß du mir sagtest, du schämtest dich meiner – und Catherines. Wir haben ein gutes Teil unseres Lebens nur für dich gelebt; es ist schmerzlich, wenn man sich klarmachen muß, daß das Verschwendung war. Weißt du, was das ist, dieses Gefühl von Verschwendung?"
Kaum vernehmbar antwortete Verena: „Ich kenne es." Und es war, als ob sie mit ihrem inneren Blick auf einen endlosen Wüstenweg zurückschaute. Sie hatte den Ausdruck, den ich schon an ihr kannte, als ich sie vom Dachboden aus spät in der Nacht beobachtete, wenn sie über den Photos von Maudie Laura Murphy, denen von Maudie Lauras Mann und deren Kindern brütete. Sie schwankte, sie legte eine Hand auf meine Schulter; sonst wäre sie, meine ich, wohl umgesunken. „Ich glaubte, diese Kränkung würde mich bis zu meinem Todestag schmerzen. Das wird sie nicht. Aber es ist keine Genugtuung für mich, Verena, wenn ich dir sage, daß auch ich mich deiner schäme."
Es war vollends Nacht geworden; Frösche und zirpendes Insektenvolk lobpriesen den langsam fallenden Regen. Wir sahen uns so undeutlich, als habe die Nässe den Schein unserer Gesichter ausgelöscht. Verena sackte an meiner Schulter zusammen. „Ich fühle mich nicht gut", hauchte sie mit fast erloschener Stimme. „Ich bin eine kranke Frau – wirklich, Dolly."
Nicht ganz überzeugt davon näherte sich Dolly ihr und berührte sie plötzlich, als könne sie mit Fingern erspüren, ob das Wahrheit sei. „Collin", befahl sie sanf, „Richter, bitte, helf Verena und mir hinauf in den Baum." Verena protestierte, daß sie auf einen Baum klettern solle; aber als sie mit dem Gedanken vertraut geworden war, ging es ganz leicht. Das Floß des Baumhauses schien hilfos über die dampfenden Gewässer zu treiben; noch war es innen trocken, denn der milde Regen war noch nicht durch den Schirm des Laubdaches gedrungen. Wir fuhren dahin im Strom des Schweigens, bis Verena ihn unterbrach: „Ich muß dir etwas sagen, Dolly. Das würde mir leichter fallen, wenn wir allein wären."
Der Richter kreuzte die Arme. „Ich fürchte, Sie werden sich mit mir abfnden müssen, Miß Verena." Sein Ton war voller Nachdruck, aber nicht streitsüchtig. „Auch für mich ist das, was Sie zu sagen haben, von Wichtigkeit."
„Das bezweife ich. Wieso denn?" entgegnete sie und fel wieder etwas in ihre alte, hochmütige Haltung
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