Die grauen Seelen
gefallen waren und mit wunderbar frischem Braun aus ihren Schalen heraussprangen. Sie rollte sie in den Händen, atmete mit geschlossenen Lidern ihren Duft ein und entfernte sich dann leise. Wir rannten ins Treppenhaus, nahmen die Ellbogen zu Hilfe, stürzten hinein: Es war apokalyptisch.
Vom Charme der alten Wohnung war nichts geblieben. Einfach nichts. Le Contre hatte sie methodisch verwüstet und die Gründlichkeit dabei so weit getrieben, dass er jedes einzelne Buch der Bibliothek in Quadrate von einen Zentimeter Seitenlänge zerschnitten hatte – Lepelut, ein Federfuchser, maß sie vor unseren Augen aus. Die Möbel hatte er zerlegt, und die verkrusteten Reliefs einstiger Mahlzeiten hatten Insekten aller Art angelockt. Überall auf dem Boden lag Kleidung verstreut. Auf sämtlichen Tapeten mit ihrem Muster aus Gänseblümchen und Stockrosen spulten die Verse der Marseillaise in zierlich geformten Buchstaben ihre kriegerische Suada ab: Immer wieder hatte der Irre diese Verse dorthin geschrieben, wie wahnsinnige Litaneien, die uns allen das Gefühl einflößten, zwischen den Seiten eines riesigen Buches eingezwängt zu sein. Dazu hatte er die Fingerspitzen genommen, getunkt in seinen eigenen Kot, den er in jeden Winkel geschissen hatte, jeden Tag, den er unter uns weilte, vielleicht nach der Morgengymnastik oder beim Donnern der Kanonen, unter dem Blau des Himmels, im unerträglichen Vogelgesang und im obszönen Duft von Geißblatt, Flieder und Rosen. Le Contre hatte letztlich seinen eigenen Krieg geführt. Mit Hilfe von Rasierklingen, Messern und Exkrementen hatte er sein Schlachtfeld abgesteckt, seinen Schützengraben, seine Hölle. Auch er hatte sein Leid herausgeschrien, bevor er daran zugrunde ging. Es stank fürchterlich, das stimmt, aber im Grunde ist ja Kotgestank nur der Geruch eines noch lebendigen Körpers, der uns nicht abstoßen sollte. Der Bürgermeister hatte bloß ein schlichtes Naturell, kein Herz, keinen Mumm. Die junge Lehrerin hingegen war eine Dame: Sie war aus der Wohnung gekommen, ohne zu urteilen oder zu zittern. Sie hatte in den Himmel geblickt, über den Rauch und runde Wolken trieben, hatte einige Schritte getan, zwei Kastanien aufgehoben und sie gestreichelt, als wären es die fiebrigen Schläfen des Verrückten. Allerdings blieb die Tatsache, dass sie die Wohnung nicht beziehen konnte. Der Bürgermeister war bestürzt. Er ließ sich im Nebel des Alkohols treiben, war beim sechsten Absinth angelangt – den er, wie die vorangegangenen, auf ex hinunterstürzte, ohne abzuwarten, bis der Zucker schmolz –, um sich davon zu erholen, dass er der Finsternis, die uns allen gemeinsam ist, so nahe gekommen war. Das alles im nächstgelegenen Café, dem Theriex, während wir anderen kopfschüttelnd und laut pfeifend mit den Kalligraphien des Verrückten und seiner Welt aus Konfetti und Kot beschäftigt waren, die Achseln zuckten und durch das Fenster nach Osten blickten, wo es gerade tief dunkel wurde. Und dann knallte der Bürgermeister, der eingeschlafen war und schnarchte, plötzlich mit dem Gesicht auf den Tisch. Allgemeines Gelächter. Das Blatt wendet sich. Man findet wieder Worte. Man spricht. Plaudert. Und irgendjemand, ich weiß nicht wer, beschwört Destinat. Ein anderer, wieder weiß ich nicht, wer, sagt: «Da muss man die kleine Lehrerin unterbringen, beim Staatsanwalt, in dem kleinen Haus im Park, wo früher die Mieter gewohnt haben!»
Alle fanden die Idee ausgezeichnet, in erster Linie der Bürgermeister, der sagte, er habe schon seit einiger Zeit daran gedacht. Mit wissender Miene stupste man den Tischnachbarn. Es war spät. Die Kirchturmuhr schlug zwölf Schläge gegen die Nacht. Der Wind riss an einem Fensterladen. Draußen trieb das Regenwasser über den Boden wie ein breiter Fluss.
VII
Am nächsten Tag hatte der Bürgermeister allen Prunk abgelegt. Er war in dicken Velours und eine Wollhose gekleidet, hielt den Blick gesenkt und trug eine Otterfellmütze und genagelte Schuhe. Vergessen die Kostümierung als Bräutigam und das selbstsichere Gehabe. Er musste sich nicht mehr vormachen, er sei im Theater und spiele eine Rolle. Lysia Verhareine hatte ihn bis auf den Grund seiner Seele durchschaut. Es war nicht mehr angebracht, in die Rolle des Galans zu schlüpfen. Außerdem machte man sich den Staatsanwalt von Anfang an zum Gegner, wenn man wie zu einem Ball herausgeputzt bei ihm erschien. Er hätte ihn gemustert wie einen Affen in Menschenkleidern. Die kleine Lehrerin
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