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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Claudel
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behielt ihr entrücktes Lächeln. Ihr Kleid war so schlicht wie das vom ersten Tag, aber in Herbst- und Waldtönen gehalten und gesäumt mit einer Brügger Spitze, die ihm einen Anstrich von religiöser Strenge verlieh. Der Bürgermeister watete im Straßenschlamm. Sie hingegen setzte ihre beweglichen Füßchen behutsam auf die vom Wasser geknetete Erde, wich Pfützen und Rinnsalen aus. Man hätte meinen können, sie zöge hüpfend und spielerisch die Spur eines Tieres in die durchnässte Erde, und erahnte unter den glatten Gesichtszügen dieser noch sehr jungen Frau das schelmische Kind, das sie einst gewesen sein musste, als sie das Hüpfspiel sein ließ, um in den Park zu laufen und dort Sträuße aus Kirschzweigen und roten Johannisbeeren zu pflücken.
    Während der Bürgermeister allein ins Schloss ging und Destinat sein Anliegen vortrug, wartete sie vor der Frei treppe. Der Staatsanwalt empfing den Bürgermeister stehend in der Eingangshalle, unter der zehn Meter hohen Decke und auf den kalten schwarzweißen Kacheln, Austragungsort einer seit Urzeiten gespielten Partie mit Menschen als Schachfiguren: Reiche, Mächtige und Krieger; daneben die Bauern und Hungerleider, die, immer in Gefahr, geschlagen zu werden, jene aus der Ferne beobachten. Der Bürgermeister legte die Karten auf den Tisch. Ohne zu beschönigen oder drum herum zu reden. Beim Sprechen hielt er den Blick auf die Kacheln und Destinats Gamaschen gesenkt, die aus feinstem Kalbsleder waren. Er verheimlichte nichts: die Marseillaise aus Scheiße, das Weltuntergangsszenario, den Einfall, der vielen Leuten gekommen sei, aber vor allem ihm selbst, die Kleine in dem Haus im Park unterzubringen. Er verstummte, wartete, betäubt wie ein Tier, das mit Wucht gegen den Stamm einer dicken Eiche gerannt ist. Der Staatsanwalt antwortete nicht. Er betrachtete durch das an eine Kathedrale erinnernde Glasfenster der Eingangstür die zarte Silhouette, die gemessenen Schrittes hin- und herging. Dann gab er dem Bürgermeister zu verstehen, er wünsche die junge Frau zu sehen, und die Tür öffnete sich für Lysia Verhareine. Ich könnte die Geschichte ausschmücken, das wäre nicht schwer. Aber wozu? Die Wahrheit wirkt sehr viel stärker, wenn man ihr ins Gesicht sieht. Lysia trat ein und reichte Destinat ihre Hand, die so zart war, dass er sie zunächst nicht bemerkte, sosehr war er damit beschäftigt, die Schuhe der jungen Frau zu betrachten, zarte Sommerschuhe aus Crêpe und schwarzem Leder, deren Spitze und Absatz ein bisschen mit Schlamm bespritzt waren. Und dieser mehr graue als braune Schlamm hatte seine feuchte erdige Spur auf dem Fußboden hinterlassen, die schwarzen Schachfelder ein wenig weiß und die weißen ein wenig dunkel gefärbt.
    Der Staatsanwalt war dafür bekannt, dass seine Schuhe
    stets makelloser glänzten als ein Helm der republikanischen Garde, ganz gleich welches Wetter war. Es mochte ein Meter Schnee fallen, Bindfäden regnen, die Straße mochte unter Kot verschwinden, aber die Füße dieses Mannes blieben immer von sauberem Leder umschlossen. Einmal beobachtete ich, wie er sie im Flur des Gerichtsgebäudes abstreifte, als er sich unbeobachtet fühlte, während in geringer Entfernung, hinter einer von den Jahren geschwärzten Nussbaumtäfelung, zwölf Geschworene das Gewicht eines Menschenkopfes wogen. Ein wenig Geringschätzung drückte sich an jenem Tag in seinen Bewegungen aus, gemischt mit Entsetzen. Damals habe ich viel verstanden. Destinat verabscheute allen Schmutz, sogar den natürlichsten, irdischsten. Gewöhnlich erfasste ihn Übelkeit, wenn er die derben Schuhe der Leute sah, die seiner Gerichtsbarkeit unterworfen waren und sich auf den Bänken des Gerichtssaales drängten, oder die der Männer und Frauen, denen er auf der Straße begegnete. Nach dem Aussehen der Schuhe beurteilte er, ob man es wert war, dass er einem in die Augen sah oder nicht. Und das alles nur wegen einer perfekten Politur, die glänzte wie der Schädel eines Glatzkopfs nach einem sonnigen Sommer, oder eben einer leichten Kruste aus getrockneter Erde, Straßenstaub oder Regentropfen, die auf hartem, rissigem Leder festsaßen.
    Aber dort, angesichts der schlammbespritzten Schuhe, die das Schachbrett aus Marmor und mit ihm, so schien es, das ganze Universum neu zeichneten, spielte sich alles anders ab: als wäre der Lauf der Welt angehalten worden.
    Destinat nahm endlich die kleine ausgestreckte Hand in die seine und hielt sie lange fest. Es dauerte. «Eine

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