Die grauen Seelen
Augenblick abpasste und dann mit Unschuldsmiene heraussprang. Und sie tat, als ob nichts wäre, ich weiß nicht, ob sie was gemerkt hat. Sagte ihm laut, hell und fröhlich guten Tag und ging dann weiter. Er antwortete gedämpft, mit schleppender Stimme, und blieb wie angewurzelt stehen, wo sie sich begrüßt hatten. Er konnte lange so ausharren, warten, als würde bald was geschehen, ich weiß nicht was, und dann ging er endlich, wie gegen seinen Willen, zurück ins Haus.» So erzählte Barbe vom Staatsanwalt und von Lysia Verhareine. Um uns herum wurde es dunkel. Dazu das Schreien der Tiere, die im Stall eingesperrt wurden, das Klappern der Fensterläden. Ich stellte mir vor, wie der Staatsanwalt die Alleen des Parks entlangging, zu den Wassern der Guerlante, und die Fenster des kleinen Hauses ansah, in dem die Lehrerin wohnte. Dass sich ein Mann, der sich dem Tod näherte, in den Netzen der Liebe fing, war nichts Neues. Es war so alt wie die Welt! In solchen Fällen geht aller Anstand flöten. Lächerlich ist es nur für die anderen, die nie etwas verstehen. Sogar Destinat mit seinem Marmorgesicht und seinen eisigen Händen war also in die Falle der Schönheit und des klopfenden Herzens geraten. Doch im Grunde machte ihn das menschlich, einfach nur menschlich. Barbe erzählte mir auch, dass eines Abends ein großes Festmahl stattgefunden habe. Destinat hatte sie alles Silberzeug herausnehmen und stundenlang Leinenservietten und bestickte Tischtücher bügeln lassen. Ein Festmahl für fünfzig Gäste? Nein. Nur für zwei, die junge Lehrerin und ihn selbst. Nur die beiden. Zu beiden Seiten eines riesigen Tisches. Nicht Barbe kochte, sondern Bourrache, den man eigens aus dem Rebillon hatte kommen lassen, und Belle de Jour bediente bei Tisch, während Barbe vor sich hin brütete und Le Grave schon längst ins Bett gegangen war. Es dauerte bis Mitternacht. Barbe versuchte zu erfahren, was sie sich wohl erzählt haben mochten. Und Belle de Jour sagte ihr: «Sie sahen sich an. Sie sahen sich nur an ...» Barbe kam auf ihre Kosten. Sie trank kleine Gläser Obstler mit Bourrache, und Bourrache war es auch, der sie am anderen Morgen weckte. Sie war am Tisch eingeschlafen. Bourrache ging fort, er hatte alles sauber gemacht und aufgeräumt. In den Armen trug er seine Tochter, in eine Decke gewickelt und selig schlafend. Das war alles ... Inzwischen war uns die Nacht dicht auf den Leib gerückt. Die alte Dienerin schwieg. Sie zog ihren Schal hoch, bedeckte ihre Haare. Eine ganze Zeit noch blieben wir beide in der Dunkelheit sitzen, ohne etwas zu sagen, und ich dachte an das, was sie mir erzählt hatte. Schließlich hat sie in den Taschen ihres alten Kittels gewühlt, als wollte sie dort etwas suchen. Am Himmel flogen Sternschnuppen. Dann wurde alles wieder ruhig. Was leuchtete, leuchtete weiter, und was dunkel war, wurde noch dunkler.
«Nehmen Sie ihn», sagte Barbe, «vielleicht können Sie
was damit anfangen.»
Sie gab mir einen großen Schlüssel. «Es hat sich nichts verändert dort, seit ich nicht mehr hingehe. Sein einziger Erbe ist ein entfernter Cousin aus der Familie seiner Frau, so entfernt, dass man ihn hier noch nie gesehen hat. Der Notar meint, er sei nach Amerika gegangen. Es würde mich wundern, wenn er von dort zurückkäme, und denken Sie nur, wieviel Zeit es braucht, ihn zu finden! Wenn ich bald nicht mehr bin ... werden Sie so eine Art Wächter sein.» Barbe ist langsam aufgestanden, hat meine Hand um den Schlüssel geschlossen und ist ohne ein weiteres Wort in ihr Zimmer gegangen. Ich habe den Schlüssel eingesteckt und bin aufgebrochen.
Ich fand keine Gelegenheit, noch einmal mit Barbe zu sprechen. Dennoch hat mich oft die Lust danach gepackt, aber ich sagte mir, es sei noch Zeit: Das ist die ewige Dummheit des Menschen, immer glaubt man, man habe Zeit, man könne es morgen erledigen, drei Tage später, nächstes Jahr, zwei Jahre später. Und dann sterben alle. Plötzlich geht man hinter Särgen her, keine gute Gelegenheit für ein Gespräch. Ich habe während der Beerdigung auf Barbes Sarg gestarrt, als erwartete ich, dort Antworten zu finden, aber da war nichts als sorgfältig poliertes Holz, das der Pfarrer mit Weihrauch und lateinischen Gebeten einnebelte. Noch immer hatte ich den Schlüssel zum Schloss in der Tasche. Seit jenem Abend vor sechs Monaten, an dem sie ihn mir gegeben hatte, hatte ich ihn nie benutzt. Und das Grab war bald zugeschüttet. Für eine lange Ewigkeit war Barbe wieder mit
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