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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Claudel
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ihrem Le Grave vereint. Der Pfarrer entfernte sich mit seinen Messdienern, deren Bauernschuhe im Matsch patschten. Die Schäfchen zerstreuten sich, und ich ging zum Grab von Clémence hinüber, böse auf mich selbst, weil ich sie nicht öfter besuchte. Sonne, Regen und Zeit haben die Fotografie ausgewa schen, die ich in einem Medaillon aus Porzellan habe dort anbringen lassen. Es bleibt nur der Schatten ihres Haars, und außerdem erahnt man ihr Lächeln, als sähe sie einen durch einen Vorhang aus Gaze an. Ich habe meine Hand auf die goldenen Buchstaben ihres Namens gelegt und bin wieder gegangen, wobei ich ihr in Gedanken all die Geschichten erzählte, die mein Leben ausmachten, mein Leben, in dem sie seit so langer Zeit fehlt und das sie sicher gut kennt, denn sie hört die ganze Zeit zu, wenn ich wieder einmal darüber brüte. Übrigens habe ich an jenem Tag, nach Barbes Beerdigung, den Entschluss gefasst, ins Schloss zu gehen, als wollte ich noch etwas tiefer in das Geheimnis eindringen, das ich von nun an fast als Einziger verfolgte. Ja, an jenem Tag habe ich die Brombeerranken aus dem Weg geräumt, die vor der Tür wucherten, und den Schlüssel in das gewaltige Schlüsselloch gesteckt. Ich kam mir dabei vor wie ein unglücklicher Prinz, der über die Schwelle in Dornröschens Schloss eindringt. Nur dass dort, hinter dieser Tür, eigentlich nichts mehr schlief.

    IX

    Aber bevor ich vom Schloss, seinem Staub und seinen Schatten berichte, möchte ich etwas anderes erzählen. Ich möchte über Lysia Verhareine sprechen, denn auch ich begegnete ihr, so wie alle anderen. Unsere Stadt ist so klein, dass sich die Wege irgendwann kreuzen. Jedes Mal zog ich meinen Hut. Sie erwiderte den Gruß, indem sie mit einem Lächeln den Kopf senkte. Eines Tages jedoch habe ich in ihren Augen etwas anderes gesehen, etwas Schneidendes, Stechendes, etwas, das einer Artilleriefeuersalve gleichkam.
    Es geschah an einem Sonntag, zur schönen Tageszeit, kurz bevor es Abend wird, im Frühjahr 1915. Die Luft duftete nach Apfelblüten und Akazienknospen. Ich wusste, dass die Lehrerin sonntags immer den gleichen Spaziergang machte, der sie auf die Anhöhe hinaufführte, ob das Wetter nun schön war oder ob es in Strömen goss. So hatte man mir berichtet.
    Auch ich trieb mich oft dort oben herum, mit einem leichten Karabiner, den mir Edmond Gachentard überlassen hatte, ein alter Kollege, der fortgezogen war, um in der Gegend von Caux Kohl zu pflanzen und seine in einem Rollstuhl zusammengesunkene Frau zu pflegen. Ein hübsches Spielzeug für Damen war dieser Karabiner, mit einem Lauf, der glänzte wie eine Zwanzig-SousMünze, und einem Kolben aus Kirschbaumholz, in den Gachentard in Kursivschrift hatte einritzen lassen: Du wirst nichts spüren. Die Worte galten dem Wild, aber Gachentard hatte befürchtet, dass sie auch auf seine Frau zutreffen könnten, eines Abends, wenn es ihn zu sehr bedrückte, sie so zu sehen mit ihren abgestorbenen Beinen und ihrem grauen Gesicht. «Ich will ihn lieber dir geben», hatte er gesagt und mir das Ding überreicht, eingewickelt in eine Zeitung, auf deren Titelblatt das zerknitterte Gesicht der schwedischen Königin zu sehen war. «Mach damit, was du willst.»
    Es war merkwürdig, was er mir da erzählt hatte, und seine Worte gingen mir noch lange im Kopf herum. Was konnte man mit einem Karabiner schon anfangen? Endivien ziehen, Musik spielen, auf den Ball gehen, seine Socken stopfen? Ein Karabiner wird hergestellt, um zu töten und Schluss, zu keinem anderen Zweck. Den Durst nach Blut habe ich nie nachfühlen können. Dennoch habe ich das Ding genommen, weil ich dachte, wenn ich es Edmond ließe, hätte ich vielleicht, ohne dass ich je davon erführe, einen kleinen, mit reichlich Cidre begossenen Mord in einer entfernten Gegend auf dem Gewissen. Seitdem hatte ich mir angewöhnt, das Gewehr auf meine Sonntagsspaziergänge mitzunehmen, wobei ich es fast wie einen Spazierstock benutzte. Mit den Jahren hat der Lauf seinen Glanz verloren und sich dunkel verfärbt, was ihm gar nicht schlecht steht. Der von Gachentard eingravierte Spruch ist durch mangelnde Pflege mehr und mehr verschwunden, und die einzigen noch lesbaren Wörter sind Du ... nichts ... Und es stimmt tatsächlich, dass mit diesem Gewehr noch nie getötet wurde. Edmond Gachentard hatte große Füße, eine Baskenmütze und eine betrübliche Neigung zu geheimnisvollen Aperitifs, deren Pflanzenaromen sie pharmazeutischen Präparaten ähnlich erscheinen

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