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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Claudel
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in der Schule so fröhlich zugegangen. Die Väter konnten ihre Söhne kaum zurückhalten, die sich sonst gegen jede Art Arbeit sträubten und für die nun jeder Tag fern von ihrem Schulpult wie ein langer, langweiliger Sonntag war.

    Martial Maire, ein Schwachsinniger – der halbe Kopf war ihm vor ein paar Jahren durch den Huftritt eines Ochsen abhanden gekommen –, legte jeden Morgen einen selbst gepflückten Blumenstrauß vor die Klassentür, und wenn es keine Blumen gab, eine Hand voll schöner Kräuter, unter denen Feldthymian, Minze und Luzerne ihren süßen Geruch verströmten. Manchmal, wenn er weder Blumen noch Kräuter fand, legte er drei Kieselsteine hin, die er sorgfältig im Brunnen in der Rue Pachamort gewaschen und dann mit seinem löchrigen Wollhemd abgetrocknet hatte. Bevor sie kam und das Geschenk entdeckte, ging er wieder. Einige Kinder sollen über den Verrückten gelacht und die Kieselsteine oder Kräuter weggeworfen haben. Lysia Verhareine hob sie langsam auf, während die vor ihr aufgereihten Schüler reglos ihre rosigen Wangen und blonden, ins Bernsteinfarbene spielenden Haare betrachteten, dann hielt sie sie in der Hand, als wollte sie sie streicheln, und stellte sie, sobald sie im Klassenraum war, in eine blaue Keramikvase in der Form eines jungen Schwans. Die Kieselsteine legte sie an den Rand ihres Lehrerpults. Martial Maire beobachtete das Geschehen von draußen. Sie warf ihm ein Lächeln zu. Er rannte fort. Manchmal, wenn sie ihm auf der Straße begegnete, streichelte sie ihm die Stirn, wie man es bei Menschen macht, die Fieber haben, und er geriet schier außer sich, weil er die Wärme ihrer Hand gespürt hatte.
    Viele wären gern an der Stelle dieses Schwachsinnigen gewesen. In gewisser Weise verkörperte Maire ihren Traum. Die junge Frau wiegte ihn wie ein Kind und schenkte ihm Aufmerksamkeit wie eine Verlobte. Niemandem fiel es je ein, darüber zu spotten.

    VIII

    Und Destinat? Das ist eine andere Geschichte, hier tappt man wieder im Ungewissen. Vielleicht war es Barbe, die ihn am besten kannte. Jahre später, lange nach diesen Ereignissen, erzählte sie mir davon. Lange nach der Affäre, lange nach dem Krieg. Alle waren gestorben. Destinat schon 1921, und die anderen auch, sinnlos, in der Asche zu wühlen. Aber sie erzählte es mir trotzdem. Es war an einem Spätnachmittag, vor dem kleinen Haus, in das sie sich mit anderen Witwen zurückgezogen hatte – Le Grave war im Jahr 23 von einem Karren überfahren worden, den er nicht kommen gehört hatte. Barbe fand Trost bei Geplauder und eingelegten Kirschen, die sie in etlichen Einmach-gläsern aus dem Schloss mitgebracht hatte. Und hier spricht sie:
    «Sofort war er wie ausgewechselt, als die Kleine ins Haus gezogen war. Er lief im Park herum wie eine dicke kranke Hummel, die vom Honig angelockt wird. Drehte immer wieder seine Runden, ob es regnete, schneite oder stürmte. Sonst hatte er doch kaum eine Fußspitze nach draußen gesetzt. Und wenn er aus V. zurückkam, schloss er sich in seinem Arbeitszimmer oder in der Bibliothek ein, ich brachte ihm ein Glas Wasser, nie was anderes, und dann aß er zu Abend, um sieben. Das war's. Aber als die Lehrerin da war, ist alles ein wenig aus dem Lot geraten. Er kam früher vom Gericht nach Hause und ging dann in den Park. Saß lange auf der Bank, las oder betrachtete die Bäume. Häufig überraschte ich ihn auch, wie er mit der Nase an der Fensterscheibe klebte, nach draußen sah, nach irgendwas Ausschau hielt, ich weiß nicht wonach. Und die Mahlzeiten, also das war der Gipfel. Er war auch sonst kein großer Esser, aber nun rührte er fast nichts mehr an. Winkt mit der Hand, und ich räum alles wieder ab. Man kann doch nicht von Wasser und Luft leben! Ich denk, eines Tages wird man ihn in seinem Zimmer auf dem Boden oder sonst wo finden, er wird Beschwerden haben, einen Schwächeanfall, Herzflattern. Nein. Nichts dergleichen. Nur sein Gesicht fiel ein, vor allem die Wangen, und die Lippen, die sind noch schmaler geworden, dabei waren sie ohnehin sehr dünn. Er, der immer früh schlafen gegangen war, begann bis spät in die Nacht aufzubleiben. Ich hörte Schritte, langsame Schritte in der oberen Etage, unterbrochen von langer Stille. Ich weiß nicht genau, was er da getan hat, grübeln, träumen oder was sonst? Sonntags richtete er es immer so ein, dass er der Kleinen über den Weg lief, wenn sie nach draußen ging. Es wirkte zufällig, war aber Absicht. Manchmal sah ich, wie er den rechten

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