Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Claudel
Vom Netzwerk:
ließen. Oft, wenn er zum Himmel aufblickte und große Wolken mit ihrem Weiß das makellose Blau verdarben, schüttelte er den Kopf und versank in Gedanken: «Diese Schweine ...», sagte er dann, aber ich habe nie erfahren, ob sich das auf die Wolken bezog oder auf andere, ferne, verborgene Formen, die nur für ihn allein vorüberzogen. Das ist alles, was mir einfällt, wenn ich an ihn denke. Das Gedächtnis ist seltsam: Es behält Dinge, die keine drei Sous wert sind. Alles Übrige versinkt in einem tiefen Loch. Gachentard muss längst tot sein. Er wäre heute hundertfünf Jahre alt. Gachentards zweiter Vorname war Marie. Noch ein Detail. Schluss damit. Ich sagte: Schluss, und das ist es, was ich wirklich machen sollte. Wozu ist die ganze Schreiberei nütze? Die Tage vergehen, und ich setze mich an meinen Tisch. Ich kann nicht sagen, dass ich es gern tue, aber ich kann auch nicht sagen, dass ich es ungern tue. Berthe, die dreimal wöchentlich zu mir kommt, um Staub aufzuwirbeln, ist gestern auf eins der Hefte gestoßen, ich glaube, es war die Nummer 1. «Das ist es also, womit Sie Ihr Papier verschwenden!» Ich habe sie angesehen. Sie ist dumm, aber nicht dümmer als andere. Sie wartete meine Antwort nicht ab. Sie putzte weiter, törichte Lieder vor sich hin singend, die ihr, seit sie zwanzig war und keinen Mann abbekommen hat, im Kopf herumschwirren. Ich hätte ihr gern etwas erklärt, aber was? Dass ich auf den Zeilen vorwärts gehe wie auf den Straßen eines Landes, das mir zugleich unbekannt und vertraut verkommt? Ich gab es auf. Als sie gegangen war, machte ich mich wieder ans Werk. Das Schlimmste ist, es ist mir egal, was aus den Heften wird. Ich bin jetzt bei Nummer 4. Zwei und drei kann ich nicht mehr finden. Ich muss sie verloren haben, oder Berthe hat eines Tages damit Feuer im Ofen gemacht. Was soll's? Ich habe keine Lust, die Sachen noch einmal zu lesen. Ich schreibe, das ist alles. Fast ist es, als spräche ich mit mir selbst. Ich führe ein Gespräch mit mir selbst, ein Gespräch aus einer anderen Zeit. Ich sammele Porträts. Ich grabe, ohne mir die Hände schmutzig zu machen.
    Am besagten Sonntag war ich seit Stunden auf der Anhöhe umhergewandert. Unter mir lag, Haus an Haus, die kleine zusammengedrängte Stadt und etwas weiter in der Ferne die kompakte Masse der Fabrikgebäude und die Ziegelschornsteine, die in den Himmel zu stechen schienen. Eine Landschaft aus Qualm und Arbeit, die sich nicht um den Rest der Welt kümmerte. Und dennoch war die Welt nicht weit: Um sie zu sehen, musste man nur ein wenig höher hinaufsteigen. Aus diesem Grund wahrscheinlich bevorzugten die Familien für ihren Sonntagsspaziergang die Ufer des Kanals und seine anheimelnde Traurigkeit, sein stilles Dahinfließen, das von Zeit zu Zeit durch das Plätschern eines dicken Karpfens oder den Bug eines Flusskahns unterbrochen wurde. Die Anhöhe war für uns wie ein Theatervorhang, aber niemand verspürte Lust, in die Vorstellung zu gehen. Man ist so feige, wie man es verdient. Wäre die Anhöhe nicht gewesen, hätten wir den Krieg mit voller Wucht abbekommen. Doch dort unten konnte man so tun, als merkte man nichts, trotz des Lärms, den er uns entgegenschleuderte. Der Krieg inszenierte seine frivolen Vorstellungen hinter der Anhöhe, auf der anderen Seite, weit weg, das heißt, eigentlich nirgendwo, am Ende einer Welt, die nicht die unsere war. Niemand wollte wirklich dorthin blicken. Wir machten ihn zu einem Märchen: So konnte man leben.
    An jenem Sonntag war ich höher gestiegen als gewöhnlich, o nein, nicht sehr weit, weniger als hundert Meter und eher unbeabsichtigt, nur wegen einer Drossel, der ich auf Schritt und Tritt folgte, während sie piepsend herumflatterte und einen gebrochenen Flügel nachzog, aus dem Blut perlte. Weil ich nur sie auf der Welt wahrnahm, war ich schließlich bis nach oben gelangt, auf eine weite Wiese, die aussah wie eine zum Himmel gekehrte Handfläche. Am Wind, der warm in meinen Kragen blies, bemerkte ich, dass ich die Linie überschritten hatte, die unsichtbare Grenze, die wir von unten durch das Land und unsere Gedanken gezogen hatten. Ich blickte auf und sah sie.
    Sie saß entspannt im dichten Gras, aus dem einige Margeriten lugten, und der helle Stoff des um ihre Taille ge breiteten Kleides erinnerte mich an bestimmte Dejeuners in der Malerei. Von Zeit zu Zeit hob ein leichter Windstoß ihre duftigen Locken, die ihren Nacken in einen zarten Schatten tauchten. Sie blickte vor sich hin,

Weitere Kostenlose Bücher