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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Claudel
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Ewigkeit», hat uns der Bürgermeister später erzählt. «Eine ganze Ewigkeit!», sagte er und fuhr fort: «Er ließ ihre Hand einfach nicht mehr los. Er behielt sie in der seinen, und die Augen, wenn ihr seine Augen gesehen hättet, das waren nicht mehr die gleichen. Ebenso die Lippen, die sich bewegten oder ein wenig zitterten, als ob er etwas sagen wollte, aber nichts kam heraus, gar nichts. Er sah die Kleine an und verschlang sie mit Blicken, als hätte er noch nie eine Frau gesehen, jedenfalls nicht so eine ... Ich wusste nicht, wo ich mit mir hin sollte, stellt euch mal vor, die beiden waren entrückt, sie zogen sich irgendwohin zurück, maßen sich mit Blicken, denn die Kleine zwinkerte nicht, sie schenkte ihm ihr hübsches, eindringliches Lächeln und senkte nicht den Kopf. Sie wirkte weder befangen noch schüchtern, und ich war der Dumme bei der ganzen Geschichte ... Ich habe etwas gesucht, woran ich mich festhalten konnte, etwas, das meine Anwesenheit gerechtfertigt hätte und mich nicht wie einen Eindringling hätte aussehen lassen, und da fand ich bei dem großen Porträt seiner Frau Zuflucht, in den Falten des Kleides, das ihr bis auf die Füße fiel ... Was hätte ich eurer Meinung nach sonst tun sollen? Endlich hat die Kleine ihre Hand zurückgezogen, aber den Blick nicht abgewendet, und der Staatsanwalt hat seine Hand betrachtet, als hätte man ihm die Haut davon abgerissen. Es war eine Weile still, dann hat er mich angesehen und gesagt. Das war alles, einfach nur . Was danach passiert ist, weiß ich nicht.» Wahrscheinlich wusste er es sehr genau, aber es war nicht mehr von Belang. Er und Lysia Verhareine entfernten sich vom Schloss. Destinat blieb dort. Lange. Stand wie angewurzelt. Und ging dann mit schweren Schritten wieder in seine Zimmer hinauf: Das weiß ich von Le Grave, der ihn noch nie so gebeugt, so langsam und benommen gesehen hatte, und Destinat antwortete seinem alten Hausangestellten nicht einmal, als der ihn fragte, ob alles in Ordnung sei. Aber vielleicht ging er noch am selben Abend wieder in die Eingangshalle zurück, in das Dämmerlicht, das der bläuliche Schein der Straßenlaternen kaum erreichte, um sich davon zu überzeugen, dass er richtig gesehen hatte, um die dünnen Schlammspuren auf dem schwarzweißen Schachbrett zu betrachten und danach die Augen seiner entrückten Frau, die ebenfalls lächelte, aber es war ein Lächeln aus einer anderen Zeit, das sein Leuchten verloren hatte und ihm nun unendlich weit entfernt vorkam.

    Dann begannen seltsame Tage.
    Der Krieg wütete weiter, schlimmer vielleicht als zu jeder anderen Zeit: Die Straßen verwandelten sich in Furchen einer endlosen grauen Ameisenstraße. Das Donnern der Kanonen hörte gar nicht mehr auf, es schlug uns die Stunde Tag und Nacht: wie eine makabre Wanduhr. So weit war es gekommen, und das Schlimmste war, dass man es kaum noch bemerkte. Jeden Tag sah man junge Männer in dieselbe Richtung ziehen, ihrem Tod entgegen, fest in dem Glauben, sie könnten ihm ein Schnippchen schlagen.
    Sie lächelten in Erwartung des Unbekannten. In ihren Augen glänzte noch ihr früheres Leben. Nur der Himmel blieb weiter rein und heiter, er wusste nichts von der Verwesung, von dem Grauen, das sich über die Erde ausbreitete, unter seinem bestirnten Bogen. Die junge Lehrerin war also in das kleine Haus im Schlosspark eingezogen. Es passte besser zu ihr als zu jedem anderen. Sie machte daraus ein Schmuckkästchen nach ihren Vorstellungen, in das, uneingeladen, der Wind drang, um die blassblauen Vorhänge und die Feldblumensträuße zu streicheln. Sie verbrachte viele Stunden, lächelnd, ohne dass man wusste, wem es galt, neben ihrem Fenster oder auf der Parkbank, in den Händen ein schmales, in rotes Maroquinleder gebundenes Notizheft. Ihre Augen schienen dann über den Horizont hinzugleiten, über ihn hinaus und bis zu einem Punkt, der kaum erkennbar war: oder nur mit dem Herzen, nicht mit den Augen.
    Wir hatten sie rasch ins Herz geschlossen, auch wenn unsere Stadt sich Fremden nicht leicht öffnet und fremden Frauen vielleicht noch weniger. Aber sie verstand es, die Leute mit Kleinigkeiten zu verführen, und sogar jene, die ihre Rivalinnen hätten werden können, ich meine die Mädchen, die einen Mann suchten, grüßten sie nach kurzer Zeit mit einem Kopfnicken, das sie leicht und lebhaft erwiderte, so wie alles, was sie tat. Die Schüler bestaunten sie mit offenem Mund. Sie amüsierte sich darüber ohne Spott. Nie war es

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