Die grauen Seelen
auf etwas, was wir anderen niemals sehen wollten. Sie schaute mit einem schönen Lächeln, einem Lächeln, neben dem jenes andere, das sie uns täglich schenkte und das doch weiß Gott zauberhaft genug war, blässlich und distanziert erschien. Sie sah hinein in die weite, braune, endlose Ebene, die unter dem entfernten Rauch der Explosionen erbebte, Explosionen, deren Gewalt nur gedämpft und abgeschwächt bis zu uns vordrang, unwirklich, um es deutlich zu sagen. Der Krieg veranstaltete seinen Karneval auf einer Strecke von vielen Kilometern, und von dort, wo wir uns befanden, hätte man ihn für ein Trompe-l'Eil halten können, inszeniert in einem Dekor für Zwerge. Alles war winzig. Der Tod entzog sich dieser Verkleinerung nicht, auch er entschwand, und mit ihm sein Marschgepäck aus Schmerzen und zerfetzten Leibern, aus Hunger, Angst und Tragödien.
Lysia Verhareine betrachtete all das mit weit geöffneten Augen. Vor sich auf den Knien hatte sie etwas, das ich zu-nächst für ein Buch hielt, das aber in Wirklichkeit, wie ich erkennen konnte, das schmale, in rotes Maroquinleder gebundene Heft war. Sie schrieb einige Wörter hinein, mit einem Stift, so winzig, dass er in ihrer Hand verschwand, und während sie die Wörter noch zu Papier brachte, bildeten ihre Lippen schon andere. Als ich sie so beobachtete, in ihrem Rücken stehend, kam ich mir wie ein Dieb vor.
Mit diesen Gedanken war ich gerade beschäftigt, als sie langsam den Kopf zu mir umwandte, wobei sie ihr schönes Lächeln in der Ferne des Schlachtfelds zurückließ. Ich blieb wie angewurzelt stehen, ein Trottel, ohne einen Schimmer davon, was ich tun oder sagen sollte. Hätte ich splitternackt vor ihr gestanden, es hätte mir nicht peinlicher sein können. Ich setzte zu einem leichten Kopfnicken an. Sie sah mich weiter an, mit einem Gesicht, das sich mir zum ersten Mal glatt zeigte wie ein See im Winter, wie das Antlitz einer Toten, ich meine einer von innen heraus Abgestorbenen, als lebte und bewegte sich in ihr nichts mehr, als wäre alles Blut aus ihr herausgeflossen.
Das dauerte endlos lang. Dann wanderten ihre Augen zu meiner linken Hand, in der schlaff Gachentards Karabiner hing. Ich sah, was sie sah, und wurde puterrot. Ich stammelte einige Worte, die ich auf der Stelle bereute: «Er ist nicht geladen. Ich gebrauche ihn nur als ...» Ich verstummte. Etwas Dümmeres hätte ich nicht sagen können. Sie ließ die Augen auf mir ruhen. Ihre Blicke stachen, bohrten sich mir unter die Haut, dann zuckte sie die Achseln, wandte sich wieder der Landschaft zu und ließ mich in einer anderen Welt zurück. Einer Welt, die für sie zu hässlich war. Oder zu eng, zu erstickend. Einer Welt, die Göttern und Prinzessinnen unbekannt ist, obwohl sie manchmal mit geschürzten Lippen oder auf Zehenspitzen hindurchmüssen. Die Welt der Männer. Nach diesem Sonntag habe ich mein ganzes Geschick darauf verwendet, ihr, wenn ich sie nur von ferne sah, aus dem Weg zu gehen. Ich verschwand in Gassen, versteckte mich in Winkeln von Hauseingängen oder zog, wenn mir nichts anderes mehr übrig blieb, meinen Hut in die Stirn. Ich wollte ihre Augen nicht mehr sehen. Ich schämte mich. Dennoch, wenn ich es recht bedachte, war an jenem Sonntag nichts Außergewöhnliches geschehen. Was hatte ich eigentlich gesehen? Ein junges Mädchen ohne Begleitung, das irgendetwas in ein rotes Heft schrieb und dabei die Kriegslandschaft betrachtete. Und außerdem, ich hatte das Recht, durch Obstgärten zu spazieren, wann immer es mir passte. Ich habe das Gewehr an einen Nagel über meiner Tür gehängt. Dort hängt es noch immer. Und es mussten erst alle anderen tot und begraben sein, bevor ich meine Sonntagsspaziergänge wieder aufnahm, auf denen ich seitdem, wie auf einem Pilgergang, stets bis zu jener Stelle auf der Wiese gehe, wo ich die junge Lehrerin am Rande unserer Welt gesehen hatte. Und jedes Mal setze ich mich dann hin, an dieser Stelle, ihrer Stelle, und schöpfe Atem. Das dauert einige Minuten. Ich sehe, was sie sah, die weite Landschaft, die wieder still und träge geworden ist, ohne Rauchfahnen oder Blitze, und sehe das Lächeln, das sie der schönen, vom Krieg besudelten Grenzenlosigkeit schenkte, sehe das alles, als könnte das Geschehen sich wiederholen, und warte. Ich warte.
X
Der Krieg wollte nicht enden. All die Prahlhänse, die behauptet hatten, innerhalb von drei Wochen werde man die Boches mit einem Tritt in den Arsch ruckzuck wieder nach Hause gejagt haben, wurden
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