Die grauen Seelen
geknüpft hatte, einen vollendeten Kreis, der das Versprechen und seine Erfüllung, den Anfang und das Ende, Geburt und Tod, zusammenbrachte. Zunächst haben wir nichts gesagt. Wir haben nicht miteinander gesprochen, sahen uns an, das wohl, unsere Augen suchten einander, wanderten dann wieder zu dem Leichnam der jungen Lehrerin hinüber. Der Tod hatte ihre Schönheit nicht geraubt, jedenfalls nicht ganz. Sie blieb sozusagen bei uns, hatte das Gesicht einer beinahe Lebendigen mit bleicher Gesichtsfarbe, und ihre Hände waren, als ich meine Hand zum ersten Mal darauf legte, noch warm, was mich beschämte, denn ich war darauf gefasst, dass sie die Augen öffnen, mich ansehen und gegen diese Zudringlichkeit, die ich mir erlaubte, protestieren würde. Dann habe ich den Kragen ihres Kleides geschlossen, damit der Stoff den feinen Bluterguss verdeckte, und der Schein eines Schlafes, der seinen wahren Namen nicht nannte, vollkommen wurde. Der Staatsanwalt hat mich gewähren lassen. Er rührte keine Hand, wagte keinen Schritt, und als ich mich ihm zuwandte, sah ich, dass mir seine verwirrten Augen eine Frage stellten, eine Frage, auf die ich keine Antwort hatte. Herrgott nochmal, wusste ich denn, warum die Leute starben? Warum man den Tod wählte? Weiß ich es heute besser? Alles in allem war der Tod eher sein Gebiet als meines. Er war der Spezialist, weil er ihn so oft forderte, weil er mit ihm auf Du und Du war, weil er ihm jährlich mehrmals begegnete, wenn er in den Hof des Gefängnisses von V. ging und dort der Hinrichtung eines seiner Opfer beiwohnte, bevor er ohne irgendwelche Reue zu Bourrache zum Mittagessen ging. Mit einer leichten Kopfbewegung, mit der ich auf den schmalen Gürtel wies, fragte ich ihn, ob er es gewesen sei, der ... «Ja», war seine Antwort, ohne dass ich ein weiteres Wort sagen musste. Ich räusperte mich, sagte: «Haben Sie nichts gefunden?» Er schaute sich langsam um, sah auf den Schrank, den Stuhl, die Kommode, den Frisiertisch, die Blumensträuße, die überall wie duftende Wächter standen, die tiefe warme Nacht, die durchs Fenster hereindrang, das Bett, den kleinen Vorhang, den Nachttisch, auf dem eine zerbrechliche Uhr ihre Zeiger weiterschob, um die Zeit voranzubringen, dann kehrte er wieder zu meinen Augen zurück. «Nichts gefunden ...», wiederholte er verstört, so gar nicht mehr der Herr Staatsanwalt. Und ich wusste nicht, ob das eine Feststellung war, eine Frage oder die Aussage eines Mannes, unter dem gerade die Erde einbrach. Auf der Treppe hörte man langsame, mühsame, schmerzvolle Schritte, Schritte von mehreren Menschen: Barbe und Le Grave, dahinter der Arzt, Hippolyte Lucy. Ein guter Arzt, Haut und Knochen, menschlich und bettelarm, das gehört zusammen, denn seine Visiten ließ er sich, wenn er zu denen ging, die wenig besaßen, selten bezahlen, und bei uns waren fast alle Leute arm. «Bezahlen Sie später!», sagte er, immer mit einem offenherzigen Lächeln, und ergänzte knurrend: «Ich lebe ja nicht im Elend ...» Und doch hat das Elend ihn umgebracht, im Jahr 1927. «Verhungert!», stellte Désharet, sein dicker, dummer Kollege, mit Knoblauchatem und puterrotem Gesicht fest, nachdem er in einem chromblitzenden Automobil mit Ledersitzen und Messingbeschlägen aus V. gekommen war, um die ausgemergelte Leiche des Arztes zu untersuchen, den man schließlich auf dem Boden seiner Küche liegend gefunden hatte, seiner Küche, in der es nichts gab, kein Möbelstück, keine Speisekammer, keine Brotrinde, kein Stück Butter, nur einen seit Tagen leeren Teller und ein Glas mit Brunnenwasser. «Verhungert ...», wiederholte er, als missfiele ihm das, dieser Dreckskerl, gewandet in Flanell und englisches Tuch. «Verhungert ...», er konnte es nicht fassen. Wenn man ihn mit einem Eimer voll Jauche übergossen hätte, hätte er nicht verwunderter sein können.
Doktor Lucy ging zu Lysia hinüber. Er hat nicht viel gemacht. Was hätte er auch tun sollen! Er legte seine Hand auf die Stirn der jungen Frau, ließ sie auf ihre Wangen gleiten, zu ihrer Kehle und hielt inne, als er die Kerbe sah. Uns blieb nur, einander anzusehen, mit leicht geöffnetem Mund wegen der vielen Fragen, die niemals ausgesprochen würden. Barbe gab uns zu verstehen, dass wir hier nichts mehr verloren hätten, in diesem Jungmädchenzimmer, das auf ewig ein solches bleiben sollte. Sie hat uns mit einem Blick vor die Tür geschickt. Und wir haben ihr gehorcht, Le Grave, der Arzt, der Staatsanwalt und
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