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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Claudel
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kleinlauter. Der erste Jahrestag der kriegerischen Handlungen wurde nicht gefeiert, außer in der Kneipe von Fermillin, einem langen, schlafmützig aussehenden Dürren, der zehn Jahre lang im Norden bei der Eisenbahn gewesen war, bevor er seine Berufung für den Verkauf von Spirituosen entdeckt hatte, «wie durch einen Befehl aus dem Himmel», so vertraute er mir eines Tages an.
    Seine Kneipe hieß Au bon pied. Viele hatten gemeint, dieser Name sei für eine Schankwirtschaft wenig aussagekräftig. Er hatte etwas steif geantwortet, es solle aber nur dieser sein und kein anderer, und er wisse genau, warum er sein Unternehmen so genannt habe, auch wenn die anderen das nicht verstünden, und im übrigen könnten ihm alle den Buckel runterrutschen. Daraufhin hatte er eine Lokalrunde spendiert, was zur Folge hatte, dass fortan alle seine Meinung teilten. Die meisten fanden sogar, dass Au bon pied gar nicht so übel sei, dass es gut, ja vornehm klinge und auf jeden Fall eine Abwechslung sei neben all den Excelsior, Terminus, Café des Amis, und schließlich sogar, dass man davon mehr Durst bekomme.
    Am 3. August 1915 entrollte Fermillin ein großes, aus einem alten Bettlaken gemachtes Spruchband über seinem Kneipenschild. Darauf hatte er in großen, blauweiß-roten Buchstaben geschrieben: Ein Jahr ist vergangen. Ruhm unseren Helden.
    Die Feier begann um fünf Uhr nachmittags mit seinen
    Getreuen: Vater Voret, einem rundlichen Pensionär aus der Fabrik, der seit drei Jahren seinen Witwerstand feierte; Janesh Hredek, einem emigrierten Bulgaren, der im nüchternen Zustand sehr schlecht Französisch sprach, aber Voltaire und Lamartine zitierte, sobald er zwei Liter Wein intus hatte; Leon Pantonin, genannt Peau verte, wegen der grünen Farbe, die sein Gesicht infolge einer revolutionären Behandlungsmethode auf der Basis von Kupferoxid zur Bekämpfung einer Lungenentzündung angenommen hatte; Jules Arbonfel, einem Riesen von zwei Metern mit der Stimme eines jungen Mädchens und dem Aussehen eines Affen; Victor Durel, den seine Frau häufig im Au bon pied abholte, um das Lokal zwei, drei Stunden später gemeinsam mit ihm zu verlassen, wenn sie endlich den gleichen Zustand erreicht hatte wie er. Bis drei Uhr Morgens hallte die Kneipe von allen großen Klassikern wider, Nous partons heureux, La Madelon, Les Jeunes Recrues, Poilu mon frere!. Angestimmt und mit Vibrato wiederholt, kraftvoll, mit Tränen in der Kehle und übertriebenen Tremolos. Manchmal wurde der Gesang lauter, wenn die Tür aufging und einer der Mitstreiter herauskam, um unter Sternen zu pissen, bevor er in den Schlund des weinseligen Monsters zurückkehrte. Am Morgen dann kam nur noch eine Art Röcheln aus der Spelunke. Außerdem ein unbestimmbarer Geruch nach saurem Wein, Blut, alten Hemden, Erbrochenem, pissgelbem Tabak. Die meisten hatten an Ort und Stelle genächtigt. Fermillin, der als Erster wieder auf den Beinen war, weckte die anderen, indem er sie schüttelte wie Pflaumenbäume, und machte ihnen dann ein Frühstück aus Pinot blanc.
    Ich sah Lysia Verhareine an der Kneipe vorbeigehen und lächeln, während Fermillin sie leise grüßte und mit einem «Mademoiselle» beehrte. Ich sah sie, aber sie sah mich nicht. Ich war zu weit entfernt. Sie trug ein Kleid in der blutroten Farbe der Weinbergpfirsiche, einen mit einem karminroten Band verzierten Strohhut und eine große, geflochtene Tasche, die fröhlich und leicht über ihrer Hüfte schwang. Sie ging auf die Felder hinaus. Es war der Morgen des 4. August. Die Sonne stieg wie ein Pfeil nach oben und trocknete den Tau. Es würde brütend heiß werden. Die Kanonen waren verstummt. Selbst wenn man die Ohren spitzte, hörte man sie nicht. Lysia bog beim Bauernhof der Familie Mureaux um die Ecke und ging ins Land hinein, wo es nach Heu und reifem Weizen duftete. Fermillin war auf der Schwelle stehen geblieben, schaute versonnen in den Himmel, rieb seinen Bart. Kleine Bengel liefen, mit dicken Butterbrotpäckchen in der Tasche, hinaus, die Welt zu entdecken. Frauen hingen Wäsche auf, Bettlaken, die sich im Wind bauschten. Lysia Verhareine war verschwunden. Ich stellte mir vor, dass sie über die sommerlichen Wege ging wie auf mit Sand bestreuten Alleen.
    Danach habe ich sie nie mehr gesehen. Ich meine, ich sah sie nie mehr lebendig. Am selben Abend kam Marivelles Sohn bei mir angerannt und traf mich mit nacktem Oberkörper und triefend nassem Kopf an, denn ich wusch mich gerade mit der Kanne. Ihm stand das

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