Die grauen Seelen
Wasser in den Augen, dicke Tränen, die aussahen wie Wachstropfen und sein jugendliches Gesicht aufquellen ließen, als wäre er in die Nähe einer Feuersbrunst gekommen. «Kommen Sie schnell, kommen Sie schnell», schrie er, «Barbe schickt mich. Kommen Sie schnell ins Schloss.»
Den Weg zum Schloss kannte ich: Ich lasse also den Bengel stehen und renne los, in der Erwartung, Destinat erstochen und mit aufgeschlitztem Bauch vorzufinden, die Tat eines unzufriedenen Verurteilten, der nach zwanzig Jahren Knast in der Gluthitze hierher zurückgekehrt ist, um ihm seine Aufwartung zu machen. Unterwegs denke ich sogar noch, es wäre eine gerechte Verkehrung der Verhältnisse, wenn er so endete, als überraschtes Opfer eines hübsch barbarischen Mordes, denn unter den vielen Köpfen, die man ihm gegeben hatte, waren sicher einige im Besitz von Unschuldigen gewesen: Und man hatte sie doch mit festem Griff um Arme und Beine zum Schafott geführt, während sie ihre Unschuld in die Welt hinausschrien. Ich komme an. Vor dem Portal. Offen. Mit nassem Haar, zerzaustem Bart, falsch geknöpfter Hose, pochendem Herzen. Und da sehe ich plötzlich auf der Freitreppe, steif, sehr aufrecht, einen Teufelsgeneral, einen richtigen Zeremonienmeister, einen Schweizer Gardisten, den Staatsanwalt, so lebendig wie ich selbst, mit allen Eingeweiden am richtigen Platz und all seinem Blut in den Adern. Als er so stocksteif vor mir steht, mit hilflos geöffneten Händen, in die Ferne gerichtetem Blick, leicht hängender, zitternder Lippe, da denke ich, wenn nicht er, denke ich, dann ... Alles steht still. Ich sehe Lysia Verhareine wieder, wie sie beim Bauernhof der Mureaux um die Ecke geht, viele Male sehe ich die Szene wieder, schmerzlich wahr und mit allen Einzelheiten: den Bewegungen ihres Kleides und ihrer kleinen Tasche, dem Weiß ihres Nackens unter der aufsteigenden Sonne, dem Knall von Bouzies Schmiedehammer, dessen Schmiede nur drei Schritte entfernt liegt, mit Fermillins roten Augen, mit Mutter Secheparts Besenstrichen vor ihrer Tür, mit dem Duft nach frischem Stroh, dem Klagen der Mauersegler, die knapp über die Dächer sausen, dem Muhen der Kühe, die Dourins Sohn in den Park führt. Das alles zehn Mal, hundert Mal, als wäre ich ein Gefangener dieser Szene, als wollte ich mich darin für alle Ewigkeit einschließen.
Ich weiß nicht, wie lange der Staatsanwalt und ich so auf der Freitreppe standen, die Gesichter einander zugewandt, ohne uns anzusehen. Ich weiß kaum noch etwas von dem Vergehen und den Unterbrechungen der Zeit, unseren Bewegungen und Gesten. Nicht mein heutiges Gedächtnis lässt mich im Stich, sondern die Erinnerung an jenen Augenblick ist ganz von allein in Stücke gegangen, der Stoff hat Löcher bekommen. Ich muss mich wie eine Maschine verhalten haben und ihm mit mechanischen Bewegungen gefolgt sein. Vielleicht führte er mich, nahm mich bei der Hand, wer weiß! Erst später spürte ich mein Herz wieder, spürte das Blut in meiner Brust. Meine Augen waren offen. Der Staatsanwalt stand neben mir, zu meiner Linken, etwas weiter hinten. Wir befanden uns in einem mit hellem Stoff bespannten Raum voller Blumensträuße. Es gab einige Möbel, eine Kommode, einen Schrank mit einem Aufsatz, ein Bett.
Und auf diesem Bett lag Lysia Verhareine. Mit geschlossenen Augen. Endgültig vor der Welt und den anderen verschlossen. Man hatte ihr die Hände auf die Brust gelegt. Sie trug noch das Kleid vom Morgen, in der Farbe des Weinbergpfirsichs, und winzige Schuhe in einem einzigartigen Braun, dem Braun, in dem sich die Erde färbt, wenn sie unter der Sonne rissig wird und sich in seidigen Staub verwandelt. Ein Nachtfalter kreiste wie verrückt über ihr, schlug gegen die Scheibe des halb geöffneten Fensters, kehrte, in taumelnden Kreisen, zu ihrem Gesicht zurück, stieß erneut gegen das Glas und begann seinen Tanz, der an eine schreckliche Pavane erinnerte, von vorn.
Der leicht geöffnete Kleiderkragen der jungen Frau ließ auf ihrer Kehle eine Kerbe von fast schwarzem Rot erkennen. Mit einer Bewegung seiner Augen wies mich der Staatsanwalt auf eine komplizierte Aufhängevorrichtung aus blauem Porzellan an der Zimmerdecke hin, ergänzt durch ein Gegengewicht in der Form eines Globus aus glänzendem Kupfer, mit den fünf Kontinenten sowie allen Meeren und Ozeanen. Dann zog er einen dünnen Gürtel aus geflochtenem Leder mit Margeriten- und Mimosenmotiven aus der Tasche, in den eine einst geschmeidige und zarte Hand einen Knoten
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