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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Claudel
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ich.

    XI

    Natürlich war Krieg. Und er wollte nicht enden. Er hatte bereits so viele Tote produziert, dass man sie nicht mehr zählen konnte. Aber die Nachricht vom Tod der jungen Lehrerin, zumal durch die Art ihres Todes, versetzte der Stadt einen Schlag. Die Straßen waren leer gefegt. Die Klatschbasen, Schandmäuler und die alten, stets zum Lästern aufgelegten Elstern blieben stumm in ihren Häusern. Die Männer tranken wortlos in den Kneipen. Nur noch Geräusche von Gläsern, Karaffen und schluckenden Kehlen waren zu hören. Das war alles. Als Huldigung, in gewisser Weise, oder als Ausdruck einer Lähmung. Sogar der Sommer schien auf halbmast geflaggt zu haben. Die Tage waren grau und stickig, die Sonne wagte sich nicht hervor, blieb verborgen hinter breiten, tintenfarbenen Wolken. Die Lausbuben trödelten nicht mehr herum, gingen nicht mehr zum Angeln, warfen keine Steine mehr in Fensterscheiben. Die Kirchturmglocken zerschnitten die Zeit wie einen abgestorbenen Baumstamm.
    Manchmal erfüllte Wolfsgeheul die Stadt. Es kam von Martial Maire, dem Schwachsinnigen, der alles verstanden hatte und, vor der Schultür kauernd, sein Leid hinausschrie. Vielleicht hätten wir es machen sollen wie er. Vielleicht ist es das Einzige, was man in solchen Fällen tun kann.
    Ich hätte dem Staatsanwalt manche Frage stellen müssen. Das ist es, was im Fall eines gewaltsamen Todes gewöhnlich zu tun ist, auch bei einem Selbstmord, denn man muss das Kind beim Namen nennen. Ja, es wäre nötig gewesen. Aber ich habe nichts unternommen. Was hätte ich denn schon von ihm erfahren? Wahrscheinlich nicht viel. Und ich hätte vor ihm gestanden wie ein Trottel, hätte meine Mütze geknautscht, auf den Boden, zur Decke, auf meine Hände gestarrt und nicht gewagt, die eigentlichen Fragen zu stellen, und welche hätten das überhaupt sein sollen? Er hatte sie gefunden. Als er spazieren ging, hatte er das geöffnete Fenster und die Leiche gesehen. Er war hineingestürzt, hatte die von innen abgeschlossene Zimmertür aufgebrochen, und dann ... und dann ... Dann nichts mehr. Er hatte sie in die Arme genommen, hatte sie aufs Bett gelegt. Hatte mich rufen lassen. Das erzählte er mir, als Barbe uns hinausgeschickt hatte und wir ziel- und ratlos auf dem Rasen im Kreis gingen.
    In den darauffolgenden Tagen blieb Destinat in seinem Schloss. Viele Stunden verbrachte er an einem Fenster und beobachtete das kleine Haus, als könnte die junge Lehrerin noch dort herauskommen. Barbe sagte mir das an dem bewussten Abend, an dem sie mir alles erzählt hat.
    Wir forschten nach, ob Lysia Verhareine Familie gehabt hatte. Ich ein bisschen und der Bürgermeister gründlich. Wir fanden nichts. Nur eine Adresse auf Briefumschlägen, die durchgestrichene Adresse einer ehemaligen Vermieterin, mit der sich der Bürgermeister am Telefon unterhielt, wobei er nur die Hälfte verstand, weil die Frau einen Dialekt aus dem Norden sprach. Was er trotz allem verstanden hat, war, dass die Vermieterin nichts über sie wusste. Wenn Briefe eintrafen, schrieb sie die neue Adresse darauf, die Adresse des Schlosses, die die junge Frau ihr mitgeteilt hatte. «Und kamen viele Briefe?», fragte der Bürgermeister noch. Ich war dabei, stand neben ihm. Er erhielt nie eine Antwort. Leitung unterbrochen. Zu jenen Zeiten waren die Leitungen noch sehr unsicher, und außerdem war Krieg. Sogar das Telefon machte ihn mit. Auf seine Art. Also befragte man Marcel Crouche, den Briefträger, der es nie schaffte, seine Runde zu beenden, wegen der vielen anderen Runden mit Wein, Schnaps, Kaffee mit Rum, Pernod oder Wermut, die er nie ausschlug. Gegen Ende des Vormittags endete er an der Wand des Waschhauses, hockte dort, gab politischen Unfug von sich, schnarchte bald wie ein Bär und hielt die Briefträgertasche fest an sich gedrückt. Und das Schloss belieferte er eher am Ende seiner Runde, wenn er bereits schwankte wie auf einem vom Unwetter geschüttelten Schiff. «Briefe, natürlich kamen Briefe fürs Schloss, ich habe die Adresse angeguckt, nicht den Namen; wenn Schloss draufstand, dann war's fürs Schloss, ist ja wohl nicht schwer. Ob für den Monsieur oder die junge Mademoiselle, was geht mich das an. Ich hab alles abgegeben, und er hat's verteilt. Ja, die Post immer eigenhändig, niemals an Barbe oder Le Grave, darauf legt er Wert, der Herr Staatsanwalt, schließlich ist er da zu Hause, oder?»
    Marcel Crouche tauchte seine dicke, pockennarbige Nase in ein Glas Obstler und atmete die

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