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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Claudel
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Flüssigkeit ein, als gälte es sein Leben. Wir tranken alle drei schweigend, der Bürgermeister, der Briefträger und ich. Dann kam die nächste Runde. Kein Wort. Zwischen den Gläsern sahen der Bürgermeister und ich uns manchmal an und wussten, was der jeweils andere dachte. Aber wir wussten auch, dass keiner von uns beiden es wagen würde, dem Staatsanwalt diese Frage zu stellen. Also haben wir nichts zueinander gesagt. Bei der Schulbehörde war man auch nicht klüger. Sie wussten lediglich, dass Lysia Verhareine sich freiwillig auf eine Stelle in unserer Gegend beworben hatte. Der Schulinspektor, den ich deswegen in V. aufsuchte und der mich eine Dreiviertelstunde lang auf dem Flur warten ließ, damit ich seine Wichtigkeit spürte, schien mehr mit seinem steif abstehenden Schnurrbart beschäftigt, den zu glätten ihm trotz der Pomade nicht gelang, als mit der jungen Lehrerin. Mehrere Male buchstabierte er ihren Namen, tat so, als stöberte er in den Akten, sah auf seine hübsche goldene Uhr, strich seine Haare glatt, betrachtete seine sauberen Fingernägel. Ohne es zu wissen, hatte er die blöden Augen eines Kalbs, ein Stück Vieh, das man in den Tod führt, ohne dass es auch nur stöhnt, weil es niemals ahnen würde, dass es ein solches Mysterium geben könnte. Er bedachte mich mit der Anrede «Mein Lieber», aber in seinem Mund hätte man das für ein Schimpfwort halten können, so übel klang es, so von oben herab.
    Nach kurzer Zeit schellte er, erhielt aber keine Antwort. Dann rief er. Immer noch keine Antwort. Er begann zu schreien, und da endlich erschien in der Tür ein kränklicher Kopf, eine weiße Rübe. Der Kopf hustete alle halbe Minute, ein Husten, das von sehr weit her kam, um zu verkünden, dass die glücklichen Stunden so endlich waren wie die Leiber. Der Eigentümer dieses halb toten Kopfes hieß Mazerulles. Der Inspektor spie den Namen aus wie einen Peitschenschlag. Ich begriff, dass er der Sekretär des Inspektors war. Und Mazerulles grub in seinem Gedächtnis. Er erinnerte sich an die Kleine, an den Tag ihrer Ankunft. Nicht allen Leuten sieht man ihren Beruf an. Ihn, Mazerulles, hätte man für ein menschliches Wrack gehalten, einen Dummkopf, einen Kriecher, jemanden, dem man nicht trauen konnte; das lag an seinem Äußeren, an seinem schlaffen Körper, der sich augenscheinlich nur mühsam auf seinem seltsamen Gehgestell aufrecht hielt. Ich fing an, mit ihm über die Kleine zu sprechen, und erzählte ihm, was geschehen war. Hätte ich ihm mit einem Knüppel zwischen die Augen geschlagen, er hätte nicht fassungsloser sein können. Er musste sich gegen die Türverkleidung lehnen und stammelte endlos vor sich hin, über die Jugend, die Schönheit, den ganzen Schlamassel, den Krieg, das Ende. Es gab nur noch uns beide. Mazerulles und mich, dazu ein kleines Gespenst, das mit jedem Satz vor uns
    erschien.
    Der Inspektor, dieser Trottel, merkte es sehr wohl; er stampfte hinter uns auf der Stelle, schnaufte vernehmlich und sagte immer wieder: «Gut ... sehr gut ... sehr gut», als wollte er uns schnellstens wieder hinausbefördern. Zusammen mit Mazerulles habe ich dann das Büro verlassen, ohne mich von dem steifen Kragen zu verabschieden, der nach Wäschestärke und billigem Kaufhausparfüm stank. Die Tür schlug hinter uns zu. Wir fanden uns im Büro des Sekretärs wieder. Es war winzig und passte zu ihm. Es war traurig und baufällig. Ein Geruch nach feuchtem Stoff und Feuerholz lag in der Luft, nach Menthol, nach grob geschnittenem Tabak. Er bot mir einen Stuhl neben dem Ofen an und setzte sich hinter seinen Tisch, auf dem sich drei bauchige Tintenfässer ein wenig Ruhe gönnten. Dann tauchte er aus seiner Betäubung auf und erzählte mir von Lysia Verhareines Ankunft. Er sprach in einfachen Worten, und ich erfuhr nichts Neues von ihm, aber es freute mich zu hören, wie jemand von ihr erzählte, jemand, der nicht aus unserer Stadt war. Denn indem hier ein Kerl, den ich nicht schon seit Adams und Evas Zeiten kannte, sie vor mir heraufbeschwor, wurde mir bewusst, dass ich nicht nur geträumt, sondern dass es sie wirklich gegeben hatte. Zum Abschied habe ich Mazerulles die Hand gegeben und ihm viel Glück gewünscht, ich weiß nicht warum, es ist mir einfach herausgerutscht, aber er schien nicht verwundert. Er sagte einfach: «Ach wissen Sie, ich und das Glück ...» Ich wusste es nicht, aber bei seinem bloßen Anblick konnte ich es mir vorstellen. Und nun, was noch? Ich könnte von Lysia

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