Die grauen Seelen
Verhareines Beerdigung erzählen. Sie fand an einem Mittwoch statt. Das Wetter war genauso schön wie an dem Tag, als sie sich entschieden hatte, uns zu verlassen. Vielleicht war es sogar noch heißer. Ja, davon könnte ich erzählen, von der Sonne, den Kindern, die Girlanden aus Weinlaub und Kornähren geflochten hatten, von den Einwohnern der Stadt, die bis auf den letzten Mann in der Kirche, die so viele Menschen kaum fassen konnte, erschienen waren, darunter Bourrache und seine Kleine, der Staatsanwalt in der ersten Reihe, wie ein Witwer, und Vater Lurat, der dicke Pfarrer, der gerade neu bei uns war und dem man bis zu dieser Stunde nicht viel zugetraut hatte, der aber die angemessenen Worte fand, um auszusprechen, was vielen von uns auf der Seele lag, dieser Pfarrer, der die Beerdigungsfeier als etwas Natürliches, Selbstverständliches auf sich genommen hatte.
Eine große Veränderung ging derweil mit dem Staatsanwalt vor. Er verlangte noch einige Köpfe, aber fast hatte man den Eindruck, er sei nicht mehr mit dem Herzen bei der Sache. Schlimmer noch, manchmal passierte es ihm, dass er sich bei seiner Anklagerede verhaspelte. Ganz stimmt das übrigens nicht. Aber manchmal, wenn er Tatsachen benannte und Schlüsse zog, verlangsamte er plötzlich seinen Redefluss, guckte ins Unbestimmte und hörte auf zu reden. Als säße er nicht mehr dort, auf seinem erhöhten Sitz im Justizpalast, sondern wäre fortgegangen. Oh, das dauerte nie lange, und außerdem fiel es niemandem ein, ihn am Ärmel zu zupfen und ihn wieder auf Kurs zu bringen, aber es kam so etwas auf wie ein peinliches Gefühl, und wenn er seine Anklagerede wieder aufnahm, schienen alle Anwesenden erleichtert, sogar der Kerl, über den man zu Gericht saß. Der Staatsanwalt ließ die Tür des kleinen Hauses im Park verschließen. Es gab keinen Mieter mehr. So wie es, bis zum Ende des Krieges, in der Schule auch keinen Lehrer mehr gab. Außerdem stellte Destinat seine Spaziergänge im Park ein. Er ging immer weniger nach draußen. Etwas später erfuhr man, dass er den Sarg und das Grabmal bezahlt hatte. Man fand, das sei eine schöne Geste von ihm.
Einige Monate nach dem Tod der Lehrerin hörte ich von
Leon Schirer, einem Jungen, der im Justizpalast von V. so etwas wie ein Laufbursche war, dass Destinat um seine Pensionierung nachgesucht habe. Schirer war keiner, der einem etwas vorflunkerte, dennoch konnte ich es kaum glauben. Auch wenn der Staatsanwalt nicht mehr zwanzig war, hatte er doch noch ein paar Jahre vor sich, und außerdem fragte ich mich, was er als Pensionär wohl anfangen sollte, außer sich, ganz allein in seinem Haus, das hundert Leute beherbergen konnte, königlich zu langweilen, in Gesellschaft von zwei Hausangestellten, mit denen er kaum drei Worte am Tag wechselte.
Ich irrte mich. Am 15. Juni 1916 hielt Destinat seine letzte Anklagerede. Er hielt sie ohne Überzeugung. Übrigens bekam er den Kopf des Angeklagten nicht. Sobald der Saal sich geleert hatte, sprach der Gerichtspräsident einige nüchterne und knappe Worte, und dann wurde eine Art Aperitif gereicht, viele Richter waren da, allen voran Mierck, Rechtsanwälte, Protokollführer und ein paar andere Gestalten. Ich auch. Dann gingen die meisten zum Abschiedsessen in den Rebillon. Ich sage, die meisten, denn ich war nicht eingeladen. Beim Schaumwein tolerierte man mich noch, aber bei den wirklich guten Sachen, die man nur genießen kann, wenn man dazu geboren ist, musste ich außen vor bleiben. Dann wurde es still um Destinat.
XII
Nun muss ich wieder auf jenen Morgen des Jahres 1917 zu sprechen kommen, an dem ich am Rand des kleinen, vereisten Kanals die Leiche von Belle de Jour und den Richter Mierck mit seinem kältestarren Gefolge zurückgelassen habe.
Mierck klebte noch immer Eigelb im Schnurrbart; er sah aus wie ein gichtkranker Botschafter. Er betrachtete das Schloss mit einem Lachen, das ihm im Mundwinkel hängen blieb. Die kleine Tür, die in den Park führte, stand offen, und an manchen Stellen war das Gras zerdrückt. Der Richter begann zu pfeifen und seinen Stock zu schwenken wie eine Fliegenklatsche. Die Sonne hatte mittlerweile den Nebel durchdrungen und schmolz den Reif. Wir waren so steif gefroren wie die Zaunpfähle im Park und unsere Wangen so hart wie Holzsohlen. Crouteux schrieb nichts mehr auf, was sollte er auch schreiben! Alles war gesagt. «Gut, gut, gut», summte Mierck wieder und wieder und wippte auf den Fußspitzen.
Dann drehte er sich plötzlich
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