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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Claudel
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Zunge.
    «Warum hast du nie wieder geheiratet?» «Und du, warum bist du allein geblieben?» «Ich habe alles über die Männer gelernt, als ich noch keine fünfzehn war. Du hast ja keine Ahnung, was es heißt, ein kleines Hausmädchen zu sein. Nie wieder, habe ich mir geschworen, und ich habe Wort gehalten. Aber du, das ist doch etwas anderes ...»
    «Ich spreche mit ihr, weißt du, jeden Tag. Es war kein Platz für eine andere.»
    «Gib zu, dass du den Staatsanwalt nachmachen woll
test!»
«Das hat damit nichts zu tun.»
    «Was du nicht sagst ... So lange, wie du schon vor dich hin brütest! Es ist, als wärst du mit ihm verheiratet. Ich finde sogar, dass du ihm mit den Jahren immer ähnlicher siehst, wie bei einem alten Ehepaar.» «Du spinnst, Fifine.»
    Wir schwiegen einen Augenblick, dann fing sie wieder an: «Ich habe ihn an dem bewussten Abend gesehen, Ehrenwort, mit eigenen Augen gesehen, auch wenn das Scheusal mir nicht glauben wollte, wie hieß er nochmal, dieses Schwein im Anzug?» «Mierck.»
    «Netter Name. Ich hoffe, er ist gestorben?»
«1931. Sein Pferd hat ihm mit dem Huf den Kopf zer
trümmert.»
«Gut so. Es gibt Todesarten, die einem richtig Spaß ma
chen können. Aber warum hat er dir nicht geglaubt? Du
warst doch schließlich Polizist!»
«Er war der Richter ...»
    Wieder einmal lief ich in der Zeit zurück und kam am selben Punkt heraus. Ich kenne den Weg nur zu gut; es ist, als beträte ich Heimaterde.

    XIV

    Josephine hatte mich drei Tage nach der Entdeckung von Belle de Jours Leiche aufgesucht. Die Ermittlungen drehten sich im Kreis. Die Gendarmen stellten Fragen nach allen Seiten. Matziev hörte sein Chanson. Mierck war nach V. zurückgekehrt, und ich versuchte zu verstehen.
    Clémence hatte ihr die Tür geöffnet, mit ihrem dicken Bauch, den sie, ständig lachend, mit beiden Händen stützte. Sie kannte Joséphine flüchtig und ließ sie herein, trotz ihres abschreckenden Äußeren und ihres Rufs als Hexe.
    «Deine Frau war so sanft ...» Wieder reichte Joséphine mir die gefüllte Trinkschale.
    «Ich erinnere mich nicht mehr genau an ihr Gesicht», sprach sie weiter, «aber ich erinnere mich, dass sie sanft war, dass alles an ihr sanft war, ihre Augen, ihre Stimme...»
    «Ich auch nicht», antwortete ich, «ich erinnere mich auch nicht mehr an ihr Gesicht ... Oft suche ich danach, habe den Eindruck, dass es auf mich zukommt, dann verschwindet es wieder, nichts bleibt übrig, und ich schlage mich, schreie mich an ...»
    «Warum denn das, du Dummkopf?» «Weil ich mich an das Gesicht der Frau, die ich liebe, nicht erinnern kann ... Ich bin ein Schwein.» Joséphine zuckte die Achseln: «Ich kenne keine Schweine und keine Heiligen. Nichts ist ganz schwarz oder ganz weiß; das Grau setzt sich durch. So ist es auch bei den Menschen und ihren Seelen. Du bist eine graue Seele, hübsch grau, wie wir alle.» «Das sind doch nur Worte» «Was haben dir die Worte getan?»
    Ich bat sie, Platz zu nehmen, und sie erzählte mir ihre Geschichte, ohne abzusetzen, mit klaren Worten. Clémence hatte sich ins Schlafzimmer zurückgezogen. Ich wusste, was sie dort tat, schon seit Wochen: immer nur Stricknadeln, blaue und rosa Wollknäuel und Spitze. Während Joséphine sprach, dachte ich manchmal an sie, im Zimmer nebenan, an ihre Finger, die über die Nadeln huschten, an ihren Bauch, in dem sie Füße traten und Ellbogen stießen.
    Und dann kam langsam Belle de Jours durchnässte Leiche ins Zimmer. Sie setzte sich neben mich, und es war so, als wollte sie hören, was Joséphine zu sagen hatte, um zuzustimmen oder abzulehnen. Nach und nach hörte ich auf zu denken. Ich lauschte Joséphine. Ich sah Belle de Jour an, das wasserüberströmte Gesicht der jungen Toten, ihre geschlossenen Lider, ihre von der Kälte bläulich angelaufenen Lippen. Sie lächelte, wie mir schien, neigte manchmal den Kopf, und ihr Mund schien zu sagen: «Ja, das stimmt, so ist es, es ist so, wie La Peau sagt, genauso hat es sich zugetragen.»
    Es ist also der Abend vor der Entdeckung der Leiche. Gegen sechs Uhr, sagt sie. Dämmerung, die Stunde der langen Messer und der geraubten Küsse. Joséphine zieht ihren Karren, geht nach Hause und verschafft sich ein wenig Wärme aus einem Schnapsfläschchen, das immer in der Tasche ihres Fuhrmannskittels steckt. In den Straßen drängt sich eine bizarre hinkende Menge: Alle sind sie ausgegangen, die Amputierten, die Krüppel ohne Beine, die zerschmetterten Gesichter, die Augenlosen, die

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