Die grauen Seelen
Kopfverletzten; alle ziehen von einer Kneipe zur nächsten, leeren Gläser, um ihre Herzen zu füllen. Anfangs, nach den ersten Kämpfen, hatte es uns noch befremdet, als wir all diese Burschen in unserem Alter bei uns auftauchen sahen. Sie kamen mit von Geschossen entstelltem Gesicht, mit von Artilleriefeuer zerfetztem Körper. Wir saßen gemütlich im Warmen, hatten unsere Ruhe, führten unser beschränktes Leben. Natürlich hörten wir den Krieg. Wir hatten ihn auch auf Plakaten, die die Mobilmachung bekannt gaben, angekündigt gesehen. Aber im Grunde taten wir nur so als ob, arrangierten uns mit ihm, so wie man es mit schlechten Träumen und Erinnerungen macht. Er war kein wirklicher Teil unserer Welt. Es war wie im Kino. Auch als der erste Verwundetentransport eintraf, ich meine, echte Verwundete, deren Körper nichts mehr war als rötliches Frikassee und die in Lastwagen auf schmutzigen Bahren lagen, leise stöhnten und den Namen ihrer Mutter oder Frau vor sich hin leierten, als also der erste Konvoi bei uns eintraf, waren wir wie vor den Kopf geschlagen. Plötzlich wurde es totenstill, und wir strömten alle herbei, um diese Schatten von Männern zu sehen, die von den Bahrenträgern von den Wagen gehoben und in die Klinik gebracht wurden. In zwei dicht gedrängten Reihen standen wir, ein Ehrenspalier aus Frauen, die sich auf die Lippen bissen und pausenlos weinten, und aus uns Männern, die wir im Grunde Memmen waren und uns deshalb schämten, doch auch – es ist hässlich, muss aber gesagt werden – auf eine gezwungene und ungesunde Art froh und zufrieden waren, dass sie und nicht wir dort auf den Tragen lagen. Das war im September t914. Die ersten Verwundeten wurden bis zum Überdruss verwöhnt. Die Besuche hörten nicht auf, die Leute brachten Flaschen, Kuchen, Madeleines, Likör, Hemden aus Batist, Hosen aus Samt, Schweinewurst und Wein.
Und dann tat die Zeit ihr Werk. Die Zeit und die Masse, denn sie kamen jeden Tag, in voll beladenen Fuhren. Wir haben uns an sie gewöhnt. Sie ekelten uns sogar ein wenig. Sie nahmen uns übel, dass wir in Sicherheit lebten, und wir nahmen ihnen übel, dass sie uns ihre Verbände, ihre fehlenden Beine und Nasen, ihre kaum verheilten Schädel und schiefen Mäuler vorzeigten. Von da an war es, als gäbe es zwei Städte, unsere und ihre. Zwei Städte am selben Ort, die einander den Rücken zuwandten, die ihre eigenen Spazierwege, Cafés und Öffnungszeiten hatten. Zwei Welten. Es kam sogar zu Beleidigungen, Geschrei, Faustschlägen. Nur die Witwe Blanchard versöhnte die beiden Parteien, denn sie machte ihre Schenkel für die einen wie für die anderen breit, für Zivilisten und Soldaten, ohne zu zählen oder auszuwählen, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Die Warteschlange, die sich manchmal bis zu zehn Meter vor ihrem Haus erstreckte, war neutrales Territorium, auf dem man wieder miteinander sprach, sich ansah, sich verbrüderte in Erwartung des großen Vergessens, das im Unterleib der Witwe schlummerte. Und sie verbrachte fast den ganzen Tag mit gespreizten Beinen auf ihrem Bett, das lächelnde, mit Trauerkrepp verzierte Bild ihres Gatten an der Wand über sich, während alle Viertelstunde ein anderer Kerl in Eile den Platz einnahm, den jener drei Jahre zuvor frei gemacht hatte, als sich in der Fabrik eine Tonne Kohle über seinen Kopf ergossen hatte.
Wenn die alten Weiber der Witwe Blanchard auf der Straße begegneten, spuckten sie hinter ihrem Rücken aus. Unfreundliche Worte fielen: «Hure, Nutte, dumme Kuh, Miststück, Straßenmädchen, Schlampe, Flittchen, läufige Hündin» und noch manch anderes. Agathe, so lautete ihr Vorname, war das vollkommen egal. Übrigens bekamen nach dem Krieg viele einen Orden, die längst nicht so treu gedient haben wie sie. Man muss gerecht bleiben. Wer ist schon in der Lage, seinen Körper, seine Wärme hinzugeben, auch wenn es nur für ein paar Münzen geschieht?
1923 hat Agathe Blanchard ihre Fensterläden und ihre Tür verschlossen, einen leichten Koffer genommen, sich von niemandem verabschiedet und ist mit dem Postauto nach V. gefahren. Dort ist sie in den Schnellzug nach
Chälons und in Chälons in den nach Paris umgestiegen. Drei Tage darauf war sie in Le Havre, wo sie sich auf der Boréal einschiffte. Zwei Monate später ging sie in Australien von Bord.
In den Büchern steht, in Australien gebe es Wüsten, Kängurus und wilde Hunde, weit gestreckte, grenzenlose Ebenen, Menschen, die anscheinend noch wie Höhlenmenschen leben,
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