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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Claudel
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Büro des Richters treten.
    Zunächst konnte man nichts sehen, hörte aber zwei verschiedene Arten von Gelächter. Das eine, das derb klang, wie wenn jemand ausspuckte, war mir vertraut. Das andere war mir neu, aber ich sollte es schnell kennen lernen. Stinkende Rauchschwaden standen im ganzen Raum und bildeten eine Wand zwischen dem dicken, an seinem Schreibtisch sitzenden Richter und dem Mann, der neben ihm stand, sowie uns Eingetretenen, die wir nicht wussten, was wir tun sollten. Dann gewöhnten unsere Augen sich nach und nach an die dicke Suppe, und die Gesichter des Richters und seines Gefährten schälten sich aus dem Nebel. Es war Matziev. Er lachte weiter und mit ihm der Richter, als wären wir nicht da, als stünden wir nicht zu dritt vor ihnen. Der Oberst zog an seiner Zigarre. Der Richter hielt sich den Bauch. Dann ließen alle beide ihr Gelächter langsam ausklingen, ohne sich übermäßig zu beeilen. Es entstand eine Stille, die ebenfalls andauerte, und erst in diesem Augenblick richtete Mierck seine dicken grünen Fischaugen auf uns. Der Oberst tat es ihm gleich, behielt jedoch, zusammen mit der Zigarre, ein feines Lächeln im Mund, das uns in kürzester Zeit zu kleinen Würmern schrumpfen ließ. «Ja bitte. Worum geht's denn?», sagte der Richter in gereiztem Tonfall und musterte dabei Josephine, als hätte er ein Tier vor sich.
    Mierck mochte mich nicht und ich ihn auch nicht. Unsere Berufe brachten es mit sich, dass wir uns ziemlich häufig begegneten, aber niemals wechselten wir ein überflüssiges Wort. Unsere Unterhaltungen waren knapp, immer frostig, und wir sahen uns kaum an dabei. Ich übernahm die Vorstellung, aber bevor ich noch zusammenfassen konnte, was Josephine mir erzählt hatte, schnitt Mierck mir das Wort ab und wandte sich an sie: «Beruf?»
    Josephine machte den Mund weit auf und überlegte ein paar Sekunden, aber das dauerte schon zu lange, der Richter wurde ungeduldig:
    «Ist sie beschränkt oder taub? Beruf?»
Josephine räusperte sich, warf mir einen Blick zu und
sagte endlich:
«Sammlerin ...»
Der Richter sah den Oberst an, sie schenkten sich ein
Lächeln. Dann machte Mierck weiter:
«Ja, was sammelt sie denn?»
    Das war des Richters Art, den Sprecher zu einem Nichts schrumpfen zu lassen. Er sagte nicht «du», nicht «Sie», er sagte «er» oder «sie», als sei das Gegenüber gar nicht anwesend, als gäbe es ihn oder sie nicht, als ließe nichts auf seine oder ihre Gegenwart schließen. Er strich ihn oder sie einfach durch, mit nichts als einem Personalpronomen.
    Ich sah, dass Josephines Gesicht rot anlief und es in ihren Augen mordlustig funkelte. Eins ist sicher, hätte sie eine Pistole oder ein Messer in der Hand gehabt, dann hätte Miercks letztes Stündlein geschlagen. Im Laufe eines Tages verüben wir in Gedanken oder Worten viele Morde, manchmal ohne es zu merken. Und wenn man darüber nachdenkt, gibt es, gemessen an all diesen vorgestellten Verbrechen, nur sehr wenige wirkliche. Außer im Krieg; da stellt sich ein Gleichgewicht zwischen unseren verdorbenen Wünschen und der Wirklichkeit her.
    Josephine atmete tief ein und legte los. Sie erläuterte anschaulich und in wenigen Worten ihr mühsames Gewerbe, dessen sie sich nicht zu schämen brauchte. Mierck stichelte weiter:
    «Ach, sieh mal einer an. Kurz gesagt: sie lebt auf Kosten von Kadavern.» Er stimmte ein falsches, hässliches Lachen an, und Matziev, der noch immer an seiner Zigarre zog, als hinge das Heil der Welt davon ab, lachte
    mit.
    Da habe ich meine Hand auf Josephines Hand gelegt und zu sprechen begonnen, habe klar und in allen Einzelheiten wiedergegeben, was sie mir am Abend zuvor erzählt hatte. Mierck war ernst geworden, hörte zu, ohne mich zu unterbrechen, und drehte sich, als ich fertig war, zum Oberst um. Sie tauschten einen undefinierbaren Blick, dann nahm der Richter seinen Papierschneider in die rechte Hand und ließ ihn eine lange Weile auf seiner Schreibtischunterlage tanzen. Der Tanz war sehr schnell, zwischen Polka und Quadrille, lebhaft und behände, und hörte ebenso rasch auf, wie er begonnen hatte. Dann begann Josephines Martyrium.
    Ohne sich vorher abgesprochen zu haben, entschieden sich der Richter und der Oberst für eine gemeinsame Offensive. Wenn man aus demselben Stoff gemacht ist, braucht man keine langen Diskussionen, um sich zu verständigen. Josephine wehrte die Salven ab, so gut sie konnte, blieb bei ihrer Version, sah mich zwischendurch an und schien mit Blicken zu sagen:

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