Die grauen Seelen
und Städte, die so neu sind wie frisch aus der Prägerei gekommene Münzen. Ich weiß nicht, ob man den Büchern trauen kann. Manchmal lügen sie. Ich weiß aber genau, dass es in Australien seit 1923 die Witwe Blanchard gibt. Vielleicht hat sie dort drüben wieder geheiratet. Vielleicht hat sie sogar Kinder, ein Geschäft. Vielleicht grüßen alle sie respektvoll und lächeln dabei. Vielleicht ist es ihr gelungen, uns zu vergessen, als sie mehrere Ozeane zwischen sich und uns legte, vielleicht ist sie von neuem rein, ohne Vergangenheit, ohne Kummer, ohne den ganzen Rest. Vielleicht.
Jedenfalls befanden sich an jenem bewussten Abend nicht alle Verwundeten bei ihr. Die Straßen waren überfüllt, sie platzten aus allen Nähten, und die meisten, die unterwegs waren, waren stockbesoffen, belästigten die Passanten, schrien, kotzten, zogen in Gruppen herum. Um ihnen auszuweichen, benutzt Josephine Nebenwege, und statt die Rue du Pressoir hinunterzugehen und dann in die Rue des Mesiaux einzubiegen, an der Kirche vorbei und hinter dem Rathaus wieder hochzugehen und in Richtung Friedhof bis zu ihrer Hütte, zieht sie den Weg am kleinen Kanal vor, obwohl er schmal ist und sie weiß, dass sie mit ihrem voll beladenen Karren nur schwer durchkommen wird. Obwohl der Umweg ihren Heimweg um einen guten Kilometer verlängert. Es ist kalt. Alles knirscht vor Frost. Joséphines Nase läuft, ihr Schnapsfläschchen ist leer. Der Himmel färbt sich graublau, der erste Stern schlägt einen silbernen Nagel ein. Der Karren zerdrückt die Schneekruste, die Felle sind steif gefroren wie Bretter. Joséphine hebt eine Hand, um sich die Nase abzuwischen, an der sich ein Eisklumpen gebildet hat. Und da sieht sie plötzlich in der Ferne, ohne dass ein Zweifel möglich ist, in etwa sechzig Meter Entfernung, Ehrenwort, Belle de Jour stehen, auf der Böschung des kleinen Kanals, im Gespräch mit einem großen Mann, der sich leicht zu ihr hinunterneigt, wie um sie besser sehen oder verstehen zu können. Und dieser steife Mann, dieser Mann in Schwarz, der dort steht, an jenem Wintertag, der sich fast schon verabschiedet hat, dieser Mann ist der Staatsanwalt. Pierre-Ange Destinat in Person. Sie schwört es, Hand aufs Herz, dreimal gespuckt, bei Holzkreuz, Eisenkreuz, Bocksbein und Hirschgeweih. Er selbst. Mit der Kleinen, fast bei Nacht. Allein. Die beiden. Er und sie. Beim Anblick dieses Bildes in der Dämmerung blieb Joséphine stehen. Sie ist nicht mehr weitergegangen. Warum? Darum. Wenn man alles, was man tut, erklären müsste, alle Gesten, Gedanken, Bewegungen, dann würde man nie damit fertig werden. Was ist also merkwürdig daran, dass Joséphine erstarrt wie ein Vorstehhund, an jenem Sonntag im Dezember 1917, als die Nacht hereinbricht, und das, weil sie gerade vor sich, in der Kälte, den Staatsanwalt von V. erkannt hat, der mit einer jungen Blume spricht und ihr die Hand auf die Schulter legt, ja, die Hand auf die Schulter, auch das kann sie beschwören? «In sechzig Meter Entfernung, bei Dunkelheit, eine Hand auf der Schulter, wenn man obendrein sturzbetrunken ist. Sie wollen uns auf den Arm nehmen!», wird man ihr beim Verhör vorhalten – ich werde noch darauf zurückkommen. Joséphine lässt sich nicht davon abbringen. Er war es. Sie war es. Wegen fünf Schlucken Schnaps sieht man noch lange keine Gespenster.
Und was weiter? Was soll schlimm daran sein, an dieser
Unterhaltung zwischen Destinat und der kleinen Blume? Er kannte sie. Sie kannte ihn. Was beweist es, dass man die beiden an jener Stelle gesehen hat, wo man sie am nächsten Tag erdrosselt finden sollte? Nichts. Nichts oder alles, je nachdem.
Ich hörte kein Geräusch mehr aus dem Schlafzimmer. Vielleicht war Clémence eingeschlafen. Und mit ihr der Kleine in ihrem Bauch. Joséphine hatte ihre Geschichte zu Ende erzählt und sah mich an. Ich sah die Szene vor mir, von der sie gesprochen hatte. Belle de Jour war still aus dem Zimmer gegangen, die nassen Kleider klebten ihr am schmalen Körper. Sie hatte mich angelächelt und war verschwunden.
«Und dann?», frage ich Josephine.
«Was dann?»
«Bist du hingegangen?»
«Ich bin doch nicht verrückt ... Den Staatsanwalt, den seh
ich lieber von weitem.»
«Und dann?»
«Bin ich umgekehrt.»
«Du hast sie so stehen lassen?»
«Was hätte ich denn tun sollen? Eine Laterne halten oder ein Kohlebecken reichen?»
«Und die Kleine? Bist du sicher, dass sie es war?» «Na sieh mal, ein kleines Mädchen mit einem goldgelben
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