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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Claudel
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Käppchen, das läuft doch nicht überall herum, und ich war ihr früher am Tag schon begegnet, als sie ins Haus ihrer Tante ging. Es war wirklich sie. Du kannst mir glauben.»
    «Was soll sie denn am Kanalufer verloren haben?» «Na, dasselbe wie ich, verflixt nochmal! Den Söldnern aus dem Weg gehen. Zweihundert Meter weiter wäre sie auf den Dorfplatz gekommen und hätte die Sechs-UhrKutsche genommen. Du hast nicht zufällig was zu trinken, beim Reden wird meine Kehle ganz trocken.» Ich holte zwei Gläser, eine Flasche, Käse, Wurst und eine Zwiebel. Wir haben still getrunken und gegessen. Ich sah Joséphine an, als könnte ich durch sie hindurch die Szene sehen, die sie mir beschrieben hatte. Sie knabberte wie eine Maus, trank den Wein in großen Schlucken und machte dabei mit ihrer Zunge eine geschmeidige, kokette Musik. Draußen fiel dichter Schnee. Er schlug gegen die Fenster und schien Buchstaben auf das Glas zu schreiben, die, kaum geschrieben, wieder schmolzen. Das Wetter schlug um. Der Frost sammelte sein Gefolge und zog ab. Der nächste Morgen sollte sich mit Matsch und Tauwetter zeigen.
    Es war spät geworden. Ich legte Decken und eine Matratze in einer Ecke der Küche bereit. Es war mir gelungen, Joséphine davon zu überzeugen, dass sie mit mir nach V. kommen sollte, um Mierck alles zu berichten. Wir wollten im Morgengrauen aufbrechen. Sie schlief ein wie ein Stein und murmelte im Schlaf einige Worte, die ich nicht verstanden habe. Von Zeit zu Zeit donnerte eine Kanone, aber ohne rechte Überzeugungskraft, nur um daran zu erinnern, dass sie noch da war, wie ein Glockenschlag des Unheils.
    Ich habe mich nicht ins Schlafzimmer gewagt. Ich hatte Angst, ich würde Lärm machen und Clémence aufwecken. Ich setzte mich in einen Sessel, den ich noch immer habe und der mich manchmal an eine große zarte Hand erinnert, in die ich mich schmiege. Im Kopf bewegte ich hin und her, was Joséphine mir erzählt hatte. Dann schloss ich die Augen.
    Bei Morgengrauen sind wir aufgebrochen. Clémence war aufgestanden, hatte uns eine Kanne mit kochend heißem Kaffee gemacht und warmen Wein in eine Flasche gefüllt. An der Tür verabschiedete sie uns mit einem Handzeichen und lächelte mich an, mich allein. Ich ging einige Schritte auf sie zu. Ich hatte große Lust, sie zu küssen, wagte es aber nicht vor Joséphine. Daher habe ich ihren
    Gruß erwidert. Und das war alles.
    Seitdem ist nicht ein Tag vergangen, an dem ich diesen versäumten Kuss nicht bereut hätte. «Gute Reise», hat sie gesagt. Das waren ihre letzten Worte. Sie sind meine Schätze. Ich trage sie unversehrt in den Ohren und spiele sie mir jeden Abend vor. Gute Reise ... Die Erinnerung an ihr Gesicht habe ich verloren, aber nicht die an ihre Stimme, das schwöre ich.

    XV

    Wir haben vier Stunden bis V. gebraucht. Das Pferd blieb im aufgeweichten Untergrund stecken. Die Wagenspuren waren tief wie Bäche. Der schmelzende Schnee setzte die Straße unter Wasser, das später in die Abflussgräben floss. Nicht zu reden von den unzähligen Konvois, die zu Fuß, auf Fuhrwerken und Lastwagen zur Frontlinie zogen und die man vorbeilassen musste, indem man sich so eng wie möglich am Straßenrand zusammendrängte. Die Soldaten sahen uns mit melancholischen Augen an. Keiner rührte sich, keiner sagte ein Wort. Sie wirkten wie fahle, blau gekleidete Tiere, die sich ergeben zum großen Schlachthof führen ließen.
    Crouteux, Richter Miercks Schreiber, hieß uns in einem mit roten Seidentapeten bespannten Vorzimmer Platz nehmen und ließ uns allein. Dieses Zimmer kannte ich gut. Ich hatte schon öfter das Vergnügen gehabt, darin über die menschliche Existenz, die Langeweile oder die Bedeutung einer Stunde, einer Minute, einer Sekunde zu brüten, und mit geschlossenen Augen hätte ich, ohne Zögern und ohne mich zu irren, den Standort jedes Möbelstücks, jedes Gegenstandes und die Anzahl der Blütenblätter jeder getrockneten Anemone, die in einer Steingutvase auf dem Kaminsims schmachtete, auf einem Blatt Papier aufzeichnen können. Josephine döste, die Hände auf den Schenkeln. Von Zeit zu Zeit sank ihr der Kopf auf die Brust, dann fuhr sie wieder hoch, wie unter der Wirkung eines elektrischen Schlags. Nach einer Stunde kam Crouteux endlich zurück, um uns abzuholen, und kratzte sich dabei leicht die schorfige Wange. Dünne Streifen abgestorbener Haut rieselten auf seinen schwarzen Anzug, der an den Knien und den Ellbogen speckig glänzte. Wortlos ließ er uns ins

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