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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Claudel
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«Was hat mich bloß geritten, dass ich auf dich gehört habe, was sollen wir eigentlich hier, wann werden mich diese Mistkerle endlich in Ruhe lassen?» Ich konnte nichts für sie tun. Ich war einfach nur anwesend, als man sie vernichtete. Und als Josephine in aller Unschuld zugab, dass sie sich mehrmals an ihrer Schnapsflasche aufgewärmt hatte, richteten Mierck und Matziev sie langsam hin, mit knappen, bissigen Bemerkungen. Als sie mit ihrer Misshandlung fertig waren, senkte sie den Kopf, stieß einen Seufzer aus und sah auf ihre von Kälte und Arbeit geschwollenen Hände. Nichts weiter. Matziev zündete sich eine neue Zigarre an und ging hin und her. Mierck schob sich auf dem Sessel nach hinten und steckte seine Daumen in die Taschen der Weste, die sich über seinem ballonartigen Bauch spannte. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Gerade wollte ich etwas sagen, als Mierck aufsprang: «Ich brauche Sie nicht mehr. Sie können gehen. Was sie angeht ...», er sah wieder Josephine an, «sie wird uns Gesellschaft leisten, solange es dauert, ihre Aussagen zu überprüfen.» Josephine drehte sich verängstigt zu mir um. Mierck wies mir den Ausgang und stand auf, um zur Tür zu gehen. Ich legte meine Hand auf Josephines Schulter. Manchmal versucht man es mit Gesten, wenn Worte nichts ausrichten können, aber der Richter drängte mich bereits ins Vorzimmer, wo Crouteux döste. Mit einem Wink der Hand forderte er ihn auf zu verschwinden, schloss die Türen, trat so dicht an mich heran, wie er es noch nie getan hatte, Mund an Mund, Auge in Auge, sodass ich alle geplatzten Äderchen, Falten, Unebenheiten, kleinen Warzen in seinem Gesicht sehen konnte und seinen Atem, der nach Zwiebel und Fett, erstklassigem Wein, Fleisch und schwarzem Kaffee stank, mit Wucht in die Nase bekam.
    «Es ist nichts passiert», sagte er leise, «verstehen Sie mich? Die Verrückte hat sich was eingebildet ... Spinnerei, dummes Zeug, Alkoholdelirium, Halluzination. Nichts, sage ich. Und selbstverständlich untersage ich Ihnen, den Herrn Staatsanwalt zu belästigen, das verbiete ich Ihnen. Übrigens habe ich Ihnen ja bereits mitgeteilt, dass die Ermittlungen in den Händen von Oberst Matziev liegen. Sie empfangen Ihre Befehle von ihm. Sie können jetzt gehen.» «Und Josephine Maulpas?», fragte ich immerhin. «Drei Tage in der Zelle werden sie auf andere Gedanken bringen.»
    Und er ließ mich einfach stehen, wie einen dummen Jungen.
    «Du sagst, drei Tage», sprach Josephine weiter. «Eine Woche hat mich das fette Schwein dabehalten, bei trocken Brot und Erbsensuppe, serviert von einer sauertöpfischen Nonne. Ach verdammt! Bist du sicher,
    dass er krepiert ist?» «Ganz sicher.»
    «Umso besser. Falls es eine Hölle gibt, muss er bestimmt drin schmoren. Ich hoffe, er hat seinen Tod kommen sehen und musste lange leiden ... Und der andere, der Zigarrenraucher, ist der auch gestorben?» «Ich weiß nicht. Vielleicht ja. Vielleicht auch nicht.»

    Josephine und ich haben noch lange miteinander die Fäden unserer beider Leben entwirrt. Während wir über längst vergangene Zeiten sprachen, gaben wir uns der Illusion hin, dass noch nicht alles vorbei war, dass ein Platz blieb, der im großen Mosaik des Zufalls für uns bestimmt war. Dann versetzten die Worte uns unmerklich in die Kindheit zurück, zum Duft der Wiesen, auf denen wir Blindekuh gespielt hatten, zu gemeinsamen Ängsten, den Liedern, dem Wasser der Quellen. Es hat Mittag geschlagen, aber wir wussten nicht mehr genau, ob es ein Mittag unserer Kindheit war oder ein rauer in der Gegenwart.
    Als Josephine ging, hat sie mich auf beide Wangen geküsst. So etwas hatte sie nie zuvor getan. Der Kuss tat mir wohl. Er war wie ein Siegel, etwas, das uns in einer ähnlichen Einsamkeit vereinte, in einer verwandtschaftlichen Beziehung mit einer langen, aber immer noch lebendigen Geschichte. Sie bog um die Straßenecke. Ich blieb allein zurück, wieder einmal. Und dachte an Belle de Jour.
    Seit sie acht Jahre alt war, kam die Kleine jeden Sonntag in unsere Stadt. Acht Jahre waren damals nicht dasselbe wie acht Jahre heutzutage! Mit acht Jahren konnte man schon alles, man war vernünftig, man hatte kräftige Arme. Man war beinahe erwachsen.
    Bourrache weiß, wo das Geld herkommt. Das habe ich bereits gesagt. Für seine Töchter hatte er Patentanten und -onkel ausgewählt, bei denen er Geld witterte. Und so wurde die Kleine bei ihrer Taufe von einer entfernten Verwandten gehalten, die in unserer Stadt lebte

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