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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Claudel
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Rebillon. Zunächst versetzte mir das einen Schlag. Dann dachte ich, dass nur dies mein Ziel gewesen sein konnte, dass ich hatte hingehen müssen, dass ich die Tür öffnen und Bourrache sehen musste, seine aufgeschossene Gestalt und seine dunklen Augen, dass ich ihm die Hand geben und jene Sätze stammeln musste, die man bei solchen Gelegenheiten gewöhnlich sagt.
    Nie zuvor hatte ich den großen Speisesaal leer gesehen. Kein Geräusch. Kein Tisch gedeckt. Keine Stimme. Kein Gläsergeklirr. Kein Pfeifenrauch. Kein Küchengeruch. Nur ein mageres Feuer in dem riesigen Kamin. Und davor saß Bourrache auf einem Hocker für Zwerge, die Füße der spärlichen Glut entgegengestreckt, den Kopf gesenkt über der Leere. Ein gebrochener Riese. Er hatte mich nicht kommen gehört. Ich bin neben ihm stehen geblieben und habe die bewussten Worte gesagt. Er hat sich nicht gerührt, nicht geantwortet. Ich sah das Feuer an. Da sah ich Clemences Blick vor mir, ihre Augen und ihr Lächeln, ich sah ihren Bauch, sah mein unverschämtes Glück und Belle de Jours Gesicht, nicht tot und nass, sondern lebendig, rosig und kräftig wie eine frische Kornähre, so wie ich sie das letzte Mal hier erlebt hatte, in ebendiesem Saal, als sie sich zwischen den Tischen hindurchschlängelte und den Trinkern Krüge mit Wein aus Toul und Vic brachte.
    Die Flammen waren beißendem grauem Qualm gewichen. Er rauchte aus dem Kamin, trieb im Saal herum, stieg an die braune Decke. Da wandte mir Bourrache mit der Gemächlichkeit eines müden Ochsen sein Gesicht zu, ein Gesicht, auf dem nichts, kein Gefühl, zu sehen war, stand auf, streckte seine kräftigen Hände nach meinem Hals aus und drückte zu, immer fester, aber ich hatte seltsamerweise keine Angst und ließ ihn gewähren, denn ich wusste, dass ich es hier nicht mit einem Mörder zu tun hatte, nicht einmal mit einem Verrückten, sondern einfach mit einem Vater, der vor kurzem sein Kind verloren hatte und für den die Welt von nun an nur noch ein Jammertal war. Ich spürte, dass ich erstickte. In meinem Inneren brauste es. Vor mir sah ich weiße Punkte, Blitze und die hochroten Gesichtszüge Bourraches, der zitterte, zitterte und dann plötzlich heftig seine Hände von meinem Hals nahm, als hätte er sich an heißem Eisen verbrannt, zu Boden stürzte und weinte. Ich schöpfte Atem. Mein Körper war in Schweiß gebadet. Ich half Bourrache hoch und führte ihn an den nächstbesten Tisch; er ließ es sich gefallen, ohne sich mit einem Wort, einer Bewegung dagegen zu sträuben. Er stöhnte und schluchzte. Ich wusste, wo die Flaschen mit Pflaumen- und Mirabellengeist standen. Ich ging hin, nahm eine Flasche und zwei Gläser und füllte sie bis zum Rand. Ich half ihm beim Trinken, dann kippte ich mein Glas und gleich noch eins. Bourrache schenkte sich dreimal nach, mechanisch wie ein Automat, und schüttete den Schnaps mit einem Schluck hinunter. Ich sah, wie seine Augen nach und nach in unsere Welt zurückkehrten, wie er mich überrascht ansah, als fragte er sich, was ich dort zu suchen hätte. Ein uniformierter Knallkopf klopfte neben uns an die Fensterscheibe. Angeheitert sah er in den Saal hinein, quetschte sich die Nase an der Scheibe platt. Er sah uns. Sein Lächeln erstarb. Er verschwand. Ich bin vier Stunden lang dort geblieben. Vier Stunden und zwei Flaschen Schnaps. Vier Stunden und kaum drei Worte. Das war das Mindeste, was ich tun konnte.
    Währenddessen begann Clemence zu stöhnen und sich in Schmerzen zu winden, allein. Ohne mich. Ohne dass ich davon wusste.

    XVI

    Als ich aus dem Rebillon kam, brachte eisiger Regen mich wieder zur Besinnung. Große Wassermengen fielen in Sturzbächen vom Himmel und schlugen gegen die Fassaden. Es war kaum noch jemand auf den Straßen. Ich hielt mich möglichst dicht an den Mauern der Häuser und formte mit den Händen ein kleines Regendach. Josephine fiel mir ein. Sie saß in einer Gefängniszelle und verfluchte mich jetzt sicher, belegte mich mit den schlimmsten Schimpfwörtern. Ich glaube sogar, ich lächelte ein wenig bei dieser Vorstellung. Als ich beim Zollamt anlangte, war ich klitschnass. Meine Füße kalt, aber meine Gedanken wieder klar. Mein Kopf drehte sich nicht mehr, trotz des Schnapses. Die Postkutsche stand bereit, und um sie herum gestikulierten Leute und schienen es auf einen genialisch wirkenden Hauptmann abgesehen zu haben, der kaum zu Wort kam. Ich trat näher. Der Mann in Uniform suchte die anderen zur Vernunft zu bringen. Einige Kerle

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