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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Claudel
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reckten Fäuste. Frauen, resignierter, warteten stocksteif, gleichgültig gegen den Regen. Plötzlich legte sich eine Hand auf meine Schulter. Es war unser Pfarrer, Pater Lurant:
    «Nach Hause fahren – unmöglich ... Die Straße ist für Militärkonvois beschlagnahmt. Zwei Regimenter müssen heute Nacht nach vorn zur Front. Schauen Sie doch!» Zunächst hatte ich sie nicht bemerkt. Aber als der Pfarrer mit der Hand nun auf sie wies, sah ich sie: Viele hunderte Männer, wartend in vollkommener Stille, das Gewehr über der Schulter und den Tornister auf dem Rücken, schienen uns zu umzingeln, wobei sie fast in der hereinbrechenden Nacht verschwanden. Sie standen einfach da, mit abwesenden Blicken, ohne eine Bewegung oder ein Wort, ohne dass der Regen sie kümmerte. Und doch waren es dieselben Kerle, die den Tag über schwankend, mit einer Flasche Wein in der Hand und an den Ellbogen untergehakt, V. unsicher gemacht hatten, die in die Kneipen geströmt waren wie Vieh zur Tränke, Lieder gegrölt, ihre Angst herausgebrüllt und sich in den Bordellen die Hosen aufgeknöpft hatten. Nun lachte keiner mehr. Starr wie Statuen standen sie da. «Kommen Sie», sagte der Pfarrer. «Es ist zwecklos, hier zu bleiben.» Ich folgte ihm beinahe automatisch, während der Hauptmann weiter versuchte, den Zorn jener zu besänftigen, die an diesem Abend nicht nach Hause zurückkehren konnten, um sich den Bauch in ihrem Bett zu wärmen.
    Es geschah nicht zum ersten Mal, dass der Generalstab die Straße beschlagnahmte. Man muss dazu sagen: Sie war sehr schmal und in einem beklagenswerten Zustand, denn sie wurde seit drei Jahren von Lastwagenrädern und Pferdehufen zerstört. Deshalb wurde sie gesperrt, sobald sich eine Offensive ankündigte, und war dann allein den Konvois vorbehalten, die manchmal den ganzen Tag und die ganze Nacht ohne Unterbrechung oder Aufenthalt darüber zogen.

Pater Lurant nahm mich mit zum bischöflichen Palais. Ein Hausmeister öffnete uns. Er hatte ein gelbes Gesicht und Haare wie Fell. Der Pfarrer erklärte die Lage, und wortlos führte uns der Hausmeister über Treppen und Flure, in denen ein Geruch nach Wachs und Schmierseife in der Luft lag, zu einem gewaltigen Schlafzimmer, in dem sich zwei bescheidene Betten aus Eisen gegenüberstanden.
    Beim Anblick dieser Liegen musste ich an unser großes, breites Bett denken. Gern wäre ich bei Clemence, in ihren Armen gewesen und hätte dort die Sanftheit gesucht, die ich bei ihr fand. Ich bat darum, sie zu benachrichtigen, wie ich es gewöhnlich tat, wenn ich einmal nicht nach Hause kam. In solchen Fällen rief ich beim Bürgermeister an, der sein Hausmädchen Louisette losschickte, um die Botschaft auszurichten. Aber der Hausmeister sagte, man brauche es gar nicht erst zu versuchen, auch die Telefonleitungen seien auf unbestimmte Zeit beschlagnahmt. Ich erinnere mich, dass mir das einen Stich versetzt hat. Mir lag daran, dass Clemence Bescheid wusste und sich keine Sorgen machte. Und ich wollte, dass sie wusste, ich dachte an sie und das Kind.
    Der Pfarrer zog sich ohne Umstände aus. Legte seine Pelerine ab, dann die Soutane und stand in Unterhemd und Unterhose vor mir, mit einem Bauch, der sich nach vorn wölbte wie eine riesige Quitte und durch eine Bandage aus Flanellstoff gestützt wurde, die er nun ebenfalls abwickelte. Dann breitete er seine nassen Kleider neben dem Ofen aus und wärmte und trocknete sich, wobei er die Hände über der Abdeckplatte des Ofens aneinander rieb. In diesem Zustand, ohne sein Priestergewand, wirkte er auf mich entschieden jünger. Wahrscheinlich war er in meinem Alter. Es kam mir vor, als sähe ich ihn zum ersten Mal. Sicher erriet er meine Gedanken. Pfarrer sind sehr geschickt, sie verstehen es, sich in die Köpfe der Menschen zu schleichen. Er sah mich lächelnd an. Unter der Einwirkung der Hitze dampfte seine Pelerine wie eine Lokomotive, und aus seiner Soutane stieg ein Dunst auf, der nach Humus und verbrannter Wolle roch.
    Der Hausmeister kam zurück, in seinen Händen ein Tablett mit zwei Tellern Suppe, einem Graubrot, einem Stück Käse, das hart war wie ein Eichenklotz, und einem Krug Wein. Er stellte alles auf einen Tisch und wünschte uns gute Nacht. Ich zog mich aus und legte meine Kleider ebenfalls ans Feuer. Geruch nach Holz, gemischt mit Schweiß und Verbranntem, kleine Dampfschwaden,
    genauso wie beim Pfarrer.
    Wir aßen, ohne uns um Manieren zu kümmern. Pater Lurant hatte große, haarlose Hände mit zarter Haut und

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