Die grauen Seelen
und die zur Zeit der Affäre auf die achtzig zuging. Adelaide Siffert war ihr Name, eine hoch gewachsene, knorrige Frau mit scharfen Gesichtszügen, Fleischerhänden, Beinen wie Holzscheiten, eine alte Jungfer, die mit ihrem Los zufrieden war und das Herz am rechten Fleck hatte. Vierzig Jahre lang hatte sie im Rathaus Schreibarbeiten erledigt, denn sie konnte geschickt mit Feder und Tinte umgehen, ohne Fehler oder Flecken. Sie bekam eine auskömmliche Rente, die ihr ein bescheidenes Leben erlaubte, hatte häufig Fleisch auf dem Teller und jeden Abend ein Glas Portwein.
Immer sonntags also schickte Bourrache seine Kleine auf Besuch zu ihrer Patentante. Sie traf dort mit der Mittagspost ein und fuhr mit der um sechs Uhr wieder ab. Adelaide Siffert kochte dann immer einen Schweinebraten und grüne Bohnen, frische, wenn gerade Saison war, ansonsten eingemachte, bereitete einen Salat zu und buk einen Apfelkuchen. Ein unumstößliches Menü. Das weiß ich von ihr selber. Die Kleine nahm zweimal vom Kuchen. Das weiß ich ebenfalls von ihr. Der Nachmittag wurde mit Näharbeiten verbracht. Manchmal putzte Belle de Jour ein bisschen in der Wohnung. Um fünf Uhr nahm sie noch ein Stück Kuchen, trank eine Tasse Milchkaffee und küsste ihre Patentante, die ihr einen Geldschein gab. Die Alte sah zu, wie sie fortging. Sie hatte ihren Besuch gehabt und die Kleine ihre fünf Franc, die Bourrache ihr bei ihrer Heimkehr gleich wieder abnahm. Alle waren zufrieden. Wenn das Wetter schlecht war, wenn es Bindfäden regnete oder der Schnee zu dicht fiel, dann kam es vor, dass die Kleine die Nacht bei ihrer Patentante verbrachte. In solchen Fällen machte sich niemand Sorgen, und sie nahm am nächsten Morgen die Post um acht. Am Abend des Verbrechens – denn Victor Desharet zufolge, der seine schmutzigen Pfoten in die Leiche des Kindes gesteckt und ihm den Bauch geöffnet hatte, wie man ein Hemd aufknöpft, geschah das Verbrechen noch am Abend – hatte Adelaide versucht, die Kleine zurückzuhalten: Es fror bereits Stein und Bein, und beim Atmen hatte man das Gefühl, innerlich zerrissen zu werden. Aber das Mädchen hatte nichts davon wissen wollen. «Mir ist nicht kalt, Tante, mit Ihrer Mütze ist mir immer schön warm.» Diese Bemerkung schmeichelte der Alten, denn die fragliche Mütze, die schon von weitem sichtbar war, hatte sie selbst genäht, mangels Samt mit Kaninchenfell gefüttert und ihr zum siebten Geburtstag geschenkt. Belle de Jour band ihre Schnürsenkel zu, zog die Fäustlinge an und löste sich dann hüpfend in Luft auf, wie ein Windstoß.
Kummer kann tödlich wirken. Sehr schnell. Nicht anders Schuldgefühl, zumindest bei Menschen, die noch einen Rest Moral im Leib haben. Adelaide Siffert folgte ihrer Patentochter bald auf den Friedhof. Zweiundzwanzig Tage lagen zwischen den beiden Beerdigungen. Keine Stunde mehr. Und während dieser drei Wochen liefen die Tränen ununterbrochen über Adelaides Gesicht, ich meine wirklich ununterbrochen, sowohl tagsüber, das kann ich bezeugen, als auch nachts, darauf könnte ich einen Eid ablegen. Gute Menschen sterben schnell. Alle mögen sie, auch der Tod. Nur die Schweine haben ein dickes Fell. Sie sterben gewöhnlich spät, und manchmal sogar in ihrem Bett. In aller Seelenruhe. Als ich aus Richter Miercks Büro kam und Josephine dort zurücklassen musste, war ich nicht stolz auf mich. Mit den Händen in den Taschen bummelte ich ein wenig in V. herum, bespritzte mir in den Schlammpfützen auf den Bürgersteigen die Hosen.
Die Stadt war im Taumel. Wie besoffen. Haufenweise waren Rekruten unterwegs und verstopften die Straßen mit großspurigem Humor und Gelächter. Eine neue Lieferung, diesmal eine besonders große, bereitete sich darauf vor, Bekanntschaft mit dem Boche zu schließen. Im Augenblick lachten sie noch darüber. Straßen wie Kneipen waren fest in der Hand der Uniformierten. Ein Fluss, ein Strom neuer Gamaschen, blitzender Knöpfe, fest angenähter Epauletten. Es sang hier, schrie dort, pfiff den wenigen Mädchen nach, die sich in die Geschäfte wagten.
Ich habe mich gefragt, was ich inmitten all dieser Dummköpfe verloren hatte, die nichts begriffen und von denen die meisten die Rückreise bald zwischen vier armseligen Lärchenbrettern antreten würden, sollte man überhaupt das Glück haben, ihre fleischlichen Überreste in den Bombenkratern oder im Stacheldraht hängend wieder zu finden.
Als ich so ziellos umherwanderte, stand ich plötzlich vor der Tür des
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