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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Claudel
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allen gründlich auf die Nerven gehen. Gut gemacht. Mierck rief einen der Gendarmen herein und ließ den Drucker in einen engen Raum bringen, eine Besenkammer, die sich auf derselben Etage befand. Dort sperrte man ihn ein und stellte eine Wache vor die Tür.
    Danach gönnten sich der Richter und der Oberst eine Pause. Dem Bürgermeister gaben sie zu verstehen, sie würden nach ihm schicken, falls sie ihn noch benötigten. Der kleine verweinte Bretone wurde von einem anderen Gendarmen in den Keller geschafft, und weil der Keller nicht abgesperrt werden konnte, legte man ihm Handschellen an und befahl ihm, sich auf den Boden zu setzen. Der Rest der Truppe kehrte, auf Befehl Miercks, an den Ort des Verbrechens zurück, um ihn noch einmal gründlich in Augenschein zu nehmen. Der Nachmittag war bereits weit fortgeschritten. Louisette kam mit einer Menge Lebensmittel zurück, die sie an verschiedenen Orten zusammengesucht hatte. Der Bürgermeister sagte ihr, sie solle alles zubereiten und es den Herren hinüberbringen, aber auch den Gefangenen etwas geben, denn er war schließlich kein Schuft. «Mein Bruder war zu der Zeit an der Front», erzählte mir Louisette, «ich wusste, dass es dort hart zuging, auch er hatte überlegt, alles im Stich zu lassen und nach Hause zurückzukehren. , hatte er eines Tages zu mir gesagt, als er auf Heimaturlaub war, und ich habe nein gesagt, wenn er das täte, würde ich es dem Bürgermeister und den Gendarmen melden. Das hätte ich natürlich niemals getan, aber ich hatte so große Angst, er würde tatsächlich desertieren und man würde ihn schnappen und erschießen. Das Ende vom Lied allerdings war, dass er trotzdem gestorben ist, eine Woche vor dem Waffenstillstand ... Das erzähl ich nur, weil ich Mitleid hatte mit den armen Kerlen, also hab ich mich erst um die Gefangenen gekümmert, bevor ich den wohlgenährten Herren was zu essen brachte. Der im Keller hat das Brot und den Speck nicht genommen, die ich ihm hinhielt, er saß in sich zusammengesunken da und heulte wie ein kleiner Bub, da ließ ich alles neben ihm auf einem Fass stehen. Dann ging ich zu dem in der Kammer im ersten Stock, habe an die Tür geklopft, keine Antwort, ich klopfte nochmal, wieder keine Antwort, Brot und Speck trug ich im Arm, da hat der Gendarm die Tür geöffnet, und wir sahen ihn. Der arme Kerl lächelte, Ehrenwort, er lächelte und sah uns direkt ins Gesicht, mit weit aufgerissenen Augen. Ich habe geschrien, alles auf den Boden fallen lassen, der Gendarm sagte Scheiße!, stürzte sich auf ihn, aber es war zu spät, er war schon tot. Mit seiner Hose hatte er sich aufgehängt, er hatte sie in Streifen gerissen und an den Fenstergriff gebunden. Ich hätte nicht gedacht, dass ein Fenstergriff so stabil ist.» Als Mierck und Matziev die Neuigkeit erfuhren, warf das ihre Theorie nicht über den Haufen. «Noch ein Beweis!», verkündeten sie dem Bürgermeister. Und sahen sich mit einem Ausdruck des Einverständnisses an. Die Nacht brach herein. Der Oberst legte Holz im Kamin nach, der Richter schickte nach Louisette. Sie traf mit gesenktem Kopf und am ganzen Leib zitternd ein. Sie glaubte, man würde sie zu dem Erhängten befragen. Aber Mierck wollte nur wissen, was sie Essbares gefunden habe. Sie sagte:
    «Drei Würste, Rillette, Schinken, Schweinsfüße, ein Huhn, Kalbsleber, einen Käse aus Kuhmilch und einen Ziegenkäse.» Die Miene des Richters hellte sich auf. «Gut, sehr gut», sagte er mit feuchtem Mund. Und gab die Bestellung auf: Gemischtes vom Schwein als Vorspeise, dann geschmorte Leber, eine Hühnersuppe mit Kohl, Möhren, Zwiebeln, Wurst, dann geschmorte Schweinsfüße, Käse und ein Apfelcrepe. Und Wein natürlich. Vom besten. Den Weißen zur Vorspeise, den Roten später. Und mit einem Wink des Handrückens schickte er sie zurück in die Küche. Den ganzen Abend pendelte Louisette pausenlos zwischen dem Bürgermeisteramt und dem Haus des Bürgermeisters hin und her. Brachte Flaschen und Suppenteller, nahm leere Weinflaschen wieder mit, brachte neue Gerichte. Der Bürgermeister blieb zu Hause im Bett, sprachlos, denn ihn hatte ein plötzliches Fieber gepackt. Den Drucker hatte man abgehängt und ins Leichenschauhaus gebracht. Ein einziger Gendarm war im Bürgermeisteramt geblieben, um den kleinen Bretonen zu bewachen. Louis Despiaux hieß der Gendarm. Ein guter Kerl, ich werde noch auf ihn zu sprechen kommen. Das Büro des Bürgermeisters, wo der Richter und der Oberst

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