Die grauen Seelen
Vor Überraschung sperrt der Bürgermeister den Mund auf, dann hat er sich wieder in der Gewalt und schreit los, sie seien wohl alle verrückt geworden, das sei bloß dummes Gerede, Lügen, Hirngespinste, die beiden Kerle seien Deserteure, die Gendarmen würden sie der Armee übergeben, und die Armee werde schon wissen, wie sie
mit ihnen zu verfahren habe.
«Wir wollen sie haben», fängt ein anderer Idiot wieder an.
«Ihr bekommt sie aber nicht», antwortet der Bürgermeister, jetzt wütend und stur. «Und wisst ihr, warum ihr sie nicht haben könnt? Weil nämlich der Richter benachrichtigt wurde. Er ist unterwegs und wird gleich hier sein.»
Manche Worte sind magisch. «Richter» ist ein solches magisches Wort. Wie «Gott», «Tod», «Kind» und noch einige andere. Es sind Wörter, die Respekt verlangen, was immer man sonst von ihnen hält. Bei dem Wort «Richter» läuft es einem kalt den Rücken hinunter, selbst wenn man sich nichts vorzuwerfen hat und das Gewissen so rein ist wie ein Lamm. Die Leute wussten genau, dass Mierck der Richter war. Die Sache mit den «kleinen Welten» hatte sich herumgesprochen – neben einer Leiche weich gekochte Eier zu verspeisen! –, auch seine Missachtung der Kleinen: dass er kein Wort für sie übrig gehabt hatte, kein Erbarmen. Dennoch blieb er für diese stumpfen Leute der Richter, selbst wenn sie ihn hassten: Er war es, der einen mit einer einfachen Unterschrift zwischen vier dicke Wände schicken konnte. Der mit dem Henker gemeinsame Sache machte. Eine Art schwarzer Mann für Erwachsene.
Die Leute sahen einander an. Die Menge begann sich zu zerstreuen, erst langsam, dann rascher, als wären alle plötzlich von einer Kolik befallen. Nur ein Dutzend Unerschütterlicher blieb auf dem Pflaster stehen. Der Bürgermeister drehte sich um und ging wieder hinein. Es war ein guter Einfall gewesen, mit dem Wort Richter zu drohen wie mit einem Gespenst – beinahe ein Geniestreich, mit dem er wahrscheinlich die Lynchjustiz verhindert hatte. Nun blieb dem Bürgermeister nur noch, den Richter auch wirklich zu benachrichtigen. Mierck traf am frühen Nachmittag ein, in Begleitung Matzievs. Es hatte den Anschein, dass sie inzwischen miteinander sprachen wie gute Freunde, und das erstaunte mich nicht, denn ich war ihnen vorher schon begegnet und sollte auch nachher noch das Vergnügen haben: Ich habe bereits gesagt, dass beide aus demselben Holz geschnitzt waren. Sie begaben sich zum Bürgermeisteramt, das man mit der Unterstützung von etwa zehn nur zu diesem Zweck angerückten Gendarmen in ein befestigtes Lager verwandelt hatte. Als Erstes ordnete der Richter an, ihm zwei bequeme Sessel vor den Kamin im Büro des Bürgermeisters zu stellen, außerdem Wein und etwas zu essen zu bringen, also Käse, Weißbrot und so weiter. Der Bürgermeister schickte Louisette, damit sie vom Besten brachte, das sie finden konnte.
Matziev nahm eine seiner Zigarren heraus. Mierck sah auf die Uhr und pfiff vor sich hin. Der Bürgermeister blieb stehen und wusste nicht, wohin mit sich. Der Richter bedeutete ihm durch ein befehlendes Kopfnicken, er solle die Soldaten und ihre Bewacher holen. Und das tat er.
Die bedauernswerten Kerle betraten den Raum, wo ihnen das warme Feuer wieder zu etwas Farbe verhalf. Den Gendarmen befahl der Oberst, sie sollten hurtig die Platte putzen, worüber Mierck herzlich lachte. Die beiden Spießgesellen musterten die armen Bengel lange. Ich sage Bengel, denn vor wenigen Jahren waren sie noch welche gewesen. Der eine, Maurice Rifolon, zweiundzwanzig Jahre alt, geboren in Melun, wohnhaft in Paris, 15 Rue des Amandiers im 15. Arondissement, Drucker. Der andere, Yann Le Floc, zwanzig Jahre alt, geboren in Plouzagen, einem bretonischen Dorf, das er vor dem Krieg nie verlassen hatte, Bauernjunge. «Was mich erstaunte», sagte der Bürgermeister später, sehr viel später, «war ihre Verschiedenheit. Der kleine Bretone ließ den Kopf hängen. Es war deutlich, dass die Angst ihn im Griff hatte. Der andere hingegen, der Arbeiter, trug den Kopf aufrecht und blickte uns gerade in die Augen, nicht gerade lächelnd, aber doch beinahe, und man musste den Eindruck haben, dass wir ihm egal waren, dass ihm möglicherweise alles egal war.» Der Oberst feuert die erste Breitseite ab: «Sie wissen, warum Sie hier sind?», fragt er. Rifolon mustert ihn, antwortet nicht. Der kleine Bretone hebt ein wenig den Kopf, stammelt: «Weil wir weggerannt sind, Herr Oberst, weil wir abgehauen sind ...»
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