Die grauen Seelen
sich eingerichtet hatten, ging auf einen kleinen Hof hinaus, in dem ein schütterer Kastanienbaum sich zum Himmel reckte. Von einem der Bürofenster aus konnte man den Mickerling gut sehen. Er hatte nicht genug Platz, um zu blühen und ein wirklicher Baum zu werden, und inzwischen steht er längst nicht mehr da. Kurz nach der Affäre ließ der Bürgermeister ihn fällen, weil er an dieser Stelle immer etwas anderes sah als einen kranken Baum.
In den Hof gelangte man durch eine niedrige Tür, die sich in der Ecke des Büros befand. Sie war mit falschen Bücherrücken täuschend echt bemalt, und die Wirkung war ausgesprochen schön: Das eher spärlich bestückte Bücherregal, in dem nie aufgeschlagene Folianten Seite an Seite mit dicken Gesetzeswerken und den Bänden der Gemeindeverordnungen standen, wurde dadurch optisch verlängert. Am Ende des Hofes befanden sich die Toiletten und ein zwei Armlängen breites Schutzdach, unter dem Brennholz aufbewahrt wurde. Als Louisette den Schinken und die Rillette brachte, wurde sie mit lautem Rufen empfangen. Kein Geschrei, nein, sondern ein Ausdruck der Befriedigung, woran sich ein auf sie gemünzter Scherz des Obersts anschloss – sie konnte sich nicht mehr genau daran erinnern –, der den Richter zum Lachen brachte. Klirrend stellte sie Teller, Besteck und Gläser auf den Tisch und trug das Essen auf. Der Oberst warf seine Zigarre in den Kamin und nahm als Erster Platz. Dann fragte er sie nach ihrem Vornamen. «Louisette», antwortete sie. Da soll der Oberst zu ihr gesagt haben: «Ein schöner Name für ein hübsches Mädchen.» Und Louisette soll gelächelt und das Kompliment eingesteckt haben, ohne zu merken, dass der Lackaffe sich über sie lustig machte, denn ihr fehlten drei Schneidezähne, und sie hatte einen Knick im Auge. Dann sprach der Richter. Er befahl, sie solle in den Keller hinuntergehen und dem Gendarmen ausrichten, sie wünschten mit dem Gefangenen zu sprechen. Louisette ging zitternd, als stiege sie in die Hölle hinab, in den Keller. Der kleine Bretone hatte zu weinen aufgehört, aber das Brot und den Speck, den ihm die Dienerin dagelassen hatte, nicht angerührt. Louisette richtete den Auftrag aus. Der Gendarm schüttelte den Kopf, sagte dem Gefangenen, er müsse hinauf, und weil dieser keine Anstalten machte, nahm Despiaux ihn bei den Handschellen und zog ihn hinter sich her. «Der Keller war sehr feucht.» Nun spricht Despiaux. Er erzählt mir seine Geschichte und berichtet von dem Abscheu, den er damals empfand. Wir sitzen an einem Tisch auf der Terrasse des Café de la Croix in V. Es ist warm. Ein Abend im Juni. Der 21. Juni. Erst vor kurzem habe ich Despiaux' Spur wieder gefunden. Nach der bewussten Nacht, von der ich gleich erzählen werde, hat er bei der Gendarmerie gekündigt. Er ging in den Süden, zu einem Schwager, der Weinberge besaß, und dann nach Algerien, wo er in einem Handelshaus für Schiffsbedarf arbeitete, das Schiffe verproviantierte. Anschließend ist er, zu Beginn des Jahres 21, nach V. zurückgekehrt.
Er ist Buchführungsgehilfe bei Carbonnieux, im Kaufhaus. Eine gute Stelle, sagt er selber. Er ist ein großer, schlanker, aber nicht magerer Mann, mit einem noch jungen Gesicht, doch sein Haar ist weiß wie Mehl. Er sagte mir, seine Haare seien auf einen Schlag weiß geworden nach jener Nacht mit dem kleinen Bretonen. Er berichtet:
«Während der ganzen Zeit, die ich mit dem Jungen zusammen war, hat er keine zwei Worte gesprochen. Erst weinte er zum Erbarmen. Dann kein Ton mehr. Ich habe ihm gesagt, wir müssten gehen. Als wir im Büro des Bürgermeisters ankamen, fühlten wir uns wie in der Sahara, wegen der Hitze. Ein Backofen. Im Kamin lagen dreimal so viele Scheite wie nötig, sie waren rot wie Hahnenkämme. Der Oberst und der Richter saßen am Tisch, mit vollen Mündern und erhobenen Gläsern. Ich grüßte militärisch. Sie hoben ihre Gläser etwas höher, um meinen Gruß zu erwidern. Da habe ich mich gefragt, wohin ich eigentlich geraten war.»
Als der kleine Bretone die beiden Witzfiguren sah, erwachte er aus seiner Erstarrung. Er fing an zu stöhnen und begann abermals mit seiner Litanei: «Was, was, was.» Das trübte Miercks gute Laune. Er warf ihm, zwischen zwei Bissen Rillette, in dürren Worten und mit scheinheiliger Miene die Nachricht vom Tod des Druckers an den Kopf. Den kleinen Bretonen, der davon ebenso wenig wusste wie übrigens auch Despiaux, traf die Neuigkeit wie ein Faustschlag. Er strauchelte und wäre
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