Die grauen Seelen
Da schaltet sich Mierck ein: «Weil Sie gemordet haben.»
Der kleine Bretone reißt die Augen auf. Der andere hingegen, Rifolon, sagt mit Unschuldsmiene: «Natürlich haben wir gemordet, man hat uns sogar deswegen geholt, damit wir von Angesicht zu Angesicht Männer töten, die uns so ähnlich sind wie Brüder, damit wir sie ermorden und sie uns ermorden. Leute wie Sie haben uns befohlen, dass wir das tun sollen ...» Der kleine Bretone gerät in Panik:
«Ich weiß nicht genau, ob ich welche getötet habe, man sieht da draußen nicht gut, und ich kann nicht schießen, sogar mein Oberst macht sich über mich lustig, , also, es ist nicht sicher, vielleicht habe ich auch niemanden getötet.»
Der Oberst tritt näher heran. Er nimmt einen tiefen Zug aus seiner Zigarre. Bläst ihnen den Rauch in die Nasenlöcher. Der Kleine hustet. Der andere gibt keinen Mucks von sich.
«Sie haben ein kleines Mädchen ermordet. Eine
Zehnjährige.»
Der Kleine fährt auf:
«Was? Was? Was?», wiederholt er mindestens
zwanzigmal, hüpft dabei auf der Stelle herum und windet sich, als stünde er auf glühenden Kohlen. Der Drucker hingegen bewahrt die Ruhe, sein feines Lächeln. Daraufhin richtet der Richter das Wort an ihn: «Sie sehen nicht überrascht aus?»
Sein Gegenüber lässt sich mit der Antwort Zeit, mustert Mierck und den Oberst von Kopf bis Fuß, und der Bürgermeister sagte später zu mir: «Es sah aus, als mäße er sie mit Blicken und als würde ihm das auch noch Spaß machen.» Endlich antwortet er:
«Mich kann nichts mehr überraschen. Wenn Sie gesehen hätten, was ich gesehen habe in den letzten Monaten, dann wüssten Sie, dass alles möglich ist.» Ein hübscher Satz, nicht wahr? Und das dem Richter, der puterrot anläuft, platsch vor die Nase. «Sie leugnen?», brüllt er.
«Ich gestehe», entgegnet der andere ruhig. «Was?», schreit der Kleine und klammert sich an den Kragen seines Gefährten. «Du bist verrückt geworden, was erzählst du da, hören Sie nicht auf ihn, ich kenne ihn gar nicht, wir sind erst seit gestern Abend zusammen. Ich weiß nicht, was er gemacht hat, Schwein, Schwein, warum tust du das, sag's ihnen, sag's ihnen!» Mierck bringt ihn zum Schweigen, drängt ihn in eine Ecke des Büros, als wollte er sagen: «Du kommst später dran», und wendet sich wieder dem anderen zu. «Du gestehst?»
«Was Sie wollen», sagt der, immer noch ruhig. «Die Kleine?»
«Ich hab sie ermordet. Ich war's. Ich hab sie gesehen. Ich
bin ihr gefolgt. Ich hab ihr mit dem Messer dreimal in
den Rücken gestochen.»
«Nein, du hast sie erwürgt.»
«Ja, stimmt, ich hab sie erwürgt mit diesen Händen, Sie haben Recht, ich hatte ja gar kein Messer dabei.» «Am Ufer des kleinen Kanals.»
«Genau.»
«Du hast sie ins Wasser geworfen.»
«Ja.»
«Warum hast du das getan?»
«Weil ich Lust dazu hatte.»
«Sie zu vergewaltigen?»
«Ja.»
«Aber sie wurde nicht vergewaltigt.»
«Keine Zeit. Ich habe ein Geräusch gehört. Da bin ich
weg.»
Die Antworten kommen wie geschmiert, wie im Theater, sagt der Bürgermeister. Der Arbeiter hält sich kerzengerade, spricht sehr deutlich. Der Richter labt sich an seinen Worten. Es wirkt, als sei die Szene einstudiert worden. Der kleine Bretone weint, das Gesicht rotzbeschmiert, mit bebenden Schultern, und dreht ständig den Kopf von rechts nach links. Matziev hüllt sich in den Rauch seiner Zigarre.
Der Richter sagt zum Bürgermeister: «Sie können sein Geständnis bezeugen?» Der Bürgermeister ist kein Zeuge, er ist sprachlos. Er merkt, dass der Arbeiter sich über den Richter lustig macht. Er merkt, dass Mierck dies ebenfalls merkt. Und endlich merkt er nur noch das eine, nämlich dass dem Richter das vollkommen gleichgültig ist. Er hat bekommen, was er wollte: ein Geständnis. «Kann man das wirklich ein Geständnis nennen?», wagt der Bürgermeister zu fragen. Der Oberst schaltet sich ein: «Sie haben doch Ohren, Herr Bürgermeister, und ein Hirn. Sie haben also zugehört und verstanden.» «Wollen Sie vielleicht das Verhör durchführen?», schlägt der Richter vor. Der Bürgermeister schweigt. Der kleine Bretone weint noch immer. Der andere steht stocksteif da. Lächelnd. Ist in Gedanken abwesend. Er hat gerade folgende Rechnung aufgemacht: Deserteur: Erschießung; Mörder: Hinrichtung. In beiden Fällen aus und vorbei! Er wollte die Sache beschleunigen. Das ist alles. Und bei dieser Gelegenheit
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