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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Claudel
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begegnet ist oder ihm noch begegnen wird, dass es möglicherweise der Nachbar ist, dieses Wissen tut niemandem gut. Besonders zu Kriegszeiten, in denen man noch dringender als sonst einen sicheren zivilen Frieden braucht, damit nicht alles verloren scheint.
    Es gibt nicht beliebig viele Arten, einen Mord aufzuklären. Ich kenne nur zwei: Entweder man verhaftet den Täter, oder man verhaftet jemanden, von dem man behauptet, er sei der Täter. Entweder das eine oder das andere. Und die Sache ist erledigt. Das ist nicht besonders schwierig. Für die Bürger ist das Ergebnis in beiden Fällen dasselbe. Der Einzige, der bei dem Handel verliert, ist der Mann, der verhaftet wird, aber wen kümmert dessen Meinung? Es sei denn, es geschehen noch mehr solche Verbrechen, dann wär's ein anderes Paar Schuhe. Ja, das ist wahr. Aber die kleine Belle de Jour war und blieb das einzige Mädchen, das bei uns erwürgt wurde. Es gab keine weiteren. Und das war der Beweis für alle, die einen Beweis nötig hatten, dass der Verhaftete wirklich der Schuldige war. Rührt euch; Akte geschlossen. Hokuspokus verschwindibus! Nichts von dem, was ich nun erzählen werde, habe ich mit eigenen Augen gesehen, aber das ändert nichts. Ich habe Jahre gebraucht, um die Fäden zu verknüpfen und alle Wörter, Wege, Fragen und Antworten zusammenzu führen. Es ist so gut wie die Wahrheit. Nichts ist erfunden. Warum sollte ich auch etwas erfinden?

    XVIII

    Am Morgen des 3. Dezember, als ich die Straße entlangstapfte, um nach Hause zu kommen, verhafteten die Gendarmen zwei junge Burschen, die halb tot waren vor Hunger und Kälte. Zwei Deserteure vom 59. Infanterieregiment. Sie waren nicht die ersten, die von den Gendarmen eingefangen wurden, das große Weglaufen hatte schon einige Monate zuvor begonnen. Jeden Tag verschwanden welche auf diese Art von der Front, verliefen sich auf dem Land oder zogen es vor, mutterseelenallein im Dickicht oder in einem Wäldchen zu verrecken: besser, als von Granaten zerfetzt zu werden. Sagen wir, die beiden kamen wie gerufen: der Armee, die ein Exempel statuieren wollte, und auch dem Richter, der einen Schuldigen brauchte. Man führt die beiden Burschen über die Straßen. Zwischen zwei Polizisten, die stolz sind wie Oskar. Die Leute kommen aus den Häusern, um sie zu sehen. Zwei Soldaten, zwei Gendarmen. Zwei zerlumpte, zerzauste, unrasierte Männer in zerrissenen Uniformen, mit hohlen Gesichtern und wankendem Schritt, deren Augen in alle Richtungen wandern, mit fester Hand gepackt von zwei Gendarmen, richtig großen, starken, rosigen Gendarmen in gewichsten Stiefeln, gebügelten Hosen und mit Siegermiene.
    Die Menge wächst an und wird zunehmend bedrohlich, vielleicht, weil Mengen immer dumm sind; eng und enger schließt sie sich um die Gefangenen. Fäuste werden gereckt,
    Schimpfwörter und Steine fliegen. Was ist eine Menschenmenge? Nichts als harmlose Bauern, wenn man mit jedem von ihnen von Angesicht zu Angesicht spricht. Aber zusammen, im gemeinsamen Geruch der Körper, dem Schwitzen, dem Atem, wenn sie beinahe aneinander kleben, wenn man in Gesichter sieht, die auf das harmloseste Wort lauern, egal ob es richtig ist oder falsch, wird die Menge zu Dynamit, einer Teufelsmaschine, einem Dampfkochtopf, der bei der geringsten Berührung explodieren kann.
    Die Gendarmen spüren, woher der Wind weht. Sie beschleunigen ihre Schritte. Auch die Deserteure beeilen sich. Alle vier flüchten ins Bürgermeisteramt, in dem auch in kürzester Zeit der Bürgermeister eintreffen wird. Es folgt ein Moment der Ruhe. Das Bürgermeisteramt sieht aus wie ein gewöhnliches Wohnhaus, ein Haus allerdings mit einer blauweißroten Fahne und dem sorgfältig in den Stein gemeißelten, schönen, auf den ersten Blick naiven Leitspruch «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» zur Beruhigung übermütiger Attentäter. Alle halten inne. Schweigen. Warten. Kein Mucks. Nach einiger Zeit tritt der Bürgermeister auf den Balkon. Er räuspert sich. Es ist ihm anzusehen, dass die Angst ihm die Eingeweide herumdreht. Es ist kalt, aber er wischt sich die Stirn und beginnt plötzlich zu sprechen: «Geht nach Hause!»
    «Wir wollen sie haben!», antwortet eine Stimme. «Wen denn?», erwidert der Bürgermeister. «Die Mörder!», platzt eine Stimme heraus, eine andere als die erste, und wird sogleich von einem Dutzend weiterer aufgegriffen, ein unheilvolles Echo. «Welche Mörder?», fragt der Bürgermeister. «Die Mörder der Kleinen», ertönt die Antwort.

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