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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Claudel
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abspulte, sodass daraus eine lange, absurde Geschichte wurde, erzählt nach dem Vorbild des Lebens, das ihr zugrunde lag. Von Zeit zu Zeit wiederholte er einen Namen, Albert Jivonal. Ich nehme an, dass es sein eigener war und dass er ihn laut aussprechen musste, vielleicht um sich zu beweisen, dass er tatsächlich noch am Leben war.
    Seine Stimme ertönte wie das Soloinstrument in der Symphonie der Sterbenden, die um mich herum gespielt wurde. Das Atmen, Röcheln, löchrige Luftholen der Gasopfer, das Klagen, Weinen, Lachen der Verrückten, geflüsterte Namen von Frauen und Müttern und über allem Jivonals Litanei, das alles weckte bei mir den Eindruck, als trieben Clémence und ich, eingeschlossen im Mastkorb eines unsichtbaren Schiffes, auf dem Totenfluss dahin, wie in jenen phantastischen Geschichten, die uns in der Schule erzählt werden und die wir mit runden Augen anhören, während uns langsam die Angst ergreift.
    Gegen Morgen bewegte sich Clémence leicht, falls nicht meine Müdigkeit mir etwas vorgegaukelt hat. Trotzdem glaube ich, dass sie das Gesicht ein wenig zu mir herüberdrehte. Ich bin mir aber sicher, dass sie stärker und länger Luft holte, als sie es bis dahin getan hatte. Da war er also, dieser tiefe Atemzug, ein Seufzer, wie man ihn ausstößt, wenn man glaubt, etwas lange Erwartetes sei endlich eingetreten, und man dadurch zeigen möchte, wie glücklich man ist, dass es so weit ist. Ich habe meine Hand auf ihre Kehle gelegt. Ich wusste Bescheid. Manchmal ist man von sich selbst überrascht, dass man Dinge weiß, obwohl man sie nie gelernt hat. Ich wusste, dass dies ihr letzter Atemzug gewesen war und dass ihm kein anderer mehr folgen würde. Ich schmiegte lange meinen Kopf an ihren. Ich spürte, wie die Wärme sie nach und nach verließ. Ich betete zu Gott und allen Heiligen, ich möge aus diesem Traum erwachen. Albert Jivonal starb kurz nach Clemence. Er verstummte. Da wusste ich, dass auch er tot war. Ich hasste ihn, weil ich mir vorstellte, dass er sich, wie in einer endlosen Warteschlange, in ihrer Nähe befinden würde, sobald er das Reich des Todes betreten hatte, und dass er sie von seinem Platz aus wahrscheinlich sehen konnte, einige Meter weiter vorn. Ja, obwohl ich ihn nicht kannte und noch nicht einmal sein Gesicht gesehen hatte, war ich ihm böse. Ich war eifersüchtig auf einen Toten. Wollte an seiner Stelle sein.
    Um sieben Uhr kam die Krankenschwester, die Tagdienst hatte. Sie schloss Clémences Augen, die sich seltsamerweise im Augenblick des Todes geöffnet hatten. Ich blieb noch länger bei ihr; niemand wagte mir wohl zu sagen, ich solle gehen. Später bin ich dann gegangen, allein. Und das war's.

    Belle de Jours Beerdigung fand eine Woche nach dem Mord in V. statt. Ich war nicht dabei. Ich hatte meinen eigenen Schmerz. Man hat mir erzählt, die Kirche sei brechend voll gewesen und noch auf dem Kirchenvorplatz hätten mehr als hundert Leute gestanden, trotz des Regens, der die Erde peitschte. Der Staatsanwalt war anwesend, auch der Richter und Matziev. Und natürlich ihre Familie, Bourrache mit seiner Frau, die gestützt werden musste, und Aline und Rose, den beiden Schwestern der Kleinen, die nicht zu begreifen schienen, was geschah. Auch die Tante, Adélaide Siffert, war da, und ihr Kinn zitterte, während sie wieder und wieder zu den Trauergästen sagte: «Wenn ich es nur gewusst hätte ... Wenn ich es gewusst hätte ...» Das Problem ist, dass man es nie weiß.
    Bei uns waren nur wenige Menschen in der Kirche. Ich sage, bei uns, weil es mir vorkam, als wären wir noch immer zusammen, obwohl Clemence da vorn in dem von großen Kerzen umgebenen Eichensarg lag und ich sie nicht mehr sah, nicht mehr spürte. Pater Lurant hielt den Gottesdienst. Er sagte einfache und wahre Worte. Unter seinem Messgewand sah ich den Mann wieder, mit dem ich eine Mahlzeit und ein Zimmer geteilt hatte, während Clémence mit dem Tod rang.
    Mit meinem Vater war ich schon seit langem zerstritten, und Clemence hatte keine Familie mehr. Umso besser. Ich hätte es nicht ertragen, wenn der eine oder andere mich unter seine Fittiche genommen hätte, wenn ich hätte sprechen und zuhören müssen oder geküsst, umarmt und bedauert worden wäre. Ich wollte so schnell wie möglich allein sein, denn von nun an sollte ich mein ganzes Leben lang allein bleiben.
    Auf dem Friedhof waren wir zu sechst: der Pfarrer, der Totengräber Ostrane, Clémentine Hussard, Léoca die Renaut, Marguerite Bonsergent – drei

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