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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Claudel
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auszustoßen, Tierschreie, so wie wahrscheinlich die Wölfe geheult haben, als es in unseren Wäldern noch welche gab, und er heulte unablässig, und nebenan lachten der Richter und Oberst umso lauter.»
    Ich stelle mir vor, wie Mierck und Matziev am Fenster stehen, die Nase an der Scheibe, den Hintern am Feuer, ein Glas Obstgeist in der Hand, den Magen mit Essen bis zum Platzen gefüllt, die Augen auf den nackten Jungen gerichtet, der sich im Frost windet, und wie sie sich dabei über die Hasenjagd, Astronomie oder Buchbinderei unterhalten. Ich stelle es mir nur vor, aber bestimmt bin ich nicht weit von der Wahrheit entfernt. Sicher ist, dass Despiaux sah, wie der Oberst etwas später erneut zu dem Gefangenen hinausging, ihn dreimal mit der Stiefelspitze anstupste, ihn leicht in Rücken und Bauch trat, als wollte er überprüfen, ob der Hund auch wirklich krepiert war. Der Bengel versuchte seinen Stiefel festzuhalten, wahrscheinlich um ihn anzuflehen, aber Matziev stieß ihn zurück und trat ihm dabei mit dem Absatz ins Gesicht. Der kleine Bretone stöhnte, und der Oberst goss einen Krug Wasser, den er in der Hand trug, über seiner Brust aus.
    «Seine Stimme, wenn Sie seine Stimme gehört hätten, das war keine richtige Stimme mehr, und dann sagte er auch noch Wörter, irgendwelche Wörter, die keinen Sinn ergaben, und ganz am Ende seiner Litanei schrie er los, brüllte, er sei es gewesen, ja, er sei es gewesen, er gebe alles zu, diesen Mord und alle anderen Morde, er habe gemordet, oft gemordet ... Er war nicht mehr zu bremsen.»

    Despiaux hatte sein Glas auf den Tisch gestellt. Er sah hinein, als suchte er irgendwo nach der Kraft, mit seiner Geschichte fortzufahren.

    Der Oberst ließ ihn kommen. Der Junge wand sich in allen Richtungen, wiederholte dabei den immer gleichen Satz: «Ich war's, ich war's, ich war's!» Seine Haut war blitzeblau, stellenweise rot marmoriert, seine Finger- und Zehenspitzen hatten sich wegen der Erfrierungen dunkel verfärbt. Sein Gesicht war totenbleich. Despiaux wickelte ihn in eine Decke und half ihm, hineinzugehen. Matziev gesellte sich wieder zu Mierck. Sie stießen auf ihren Erfolg an. Die Kälte hatte über den kleinen Bretonen gesiegt. Es gelang Despiaux nicht, ihn zum Schweigen zu bringen. Er gab ihm etwas Warmes zu trinken, das er jedoch nicht hinunterschlucken konnte. Er wachte die ganze Nacht bei ihm, mehr als dass er ihn bewachte. Da war nichts mehr zu bewachen. Es war nichts von ihm übrig.

    Ein Juniabend könnte einen im Hinblick auf die Erde und die Menschen beinahe hoffnungsvoll stimmen. Düfte entströmen den Mädchen und Bäumen, und die Luft wirkt so leicht, dass man versucht sein könnte, neu zu beginnen, sich die Augen zu reiben und zu glauben, das Böse sei nur ein Traum und Leid nur ein Trugbild der Seele. Wahrscheinlich war das der Grund dafür, dass ich dem ehemaligen Gendarmen vorschlug, noch irgendwo etwas essen zu gehen. Er sah mich an, als hätte ich ein Schimpfwort zu ihm gesagt, dann schüttelte er den Kopf. Vielleicht war ihm der Appetit vergangen, weil er in dieser Asche herumgestochert hatte. Um die Wahrheit zu sagen, ich hatte auch keinen Hunger, mein Vorschlag entsprang vor allem dem verzweifelten Wunsch, noch eine Weile mit ihm zusammen zu sein. Aber bevor ich Zeit hatte, eine weitere Runde zu bestellen, stand Despiaux auf. Er richtete sich zu voller Länge auf, strich mit der flachen Hand seine Anzugsjacke glatt, rückte den Hut zurecht und sah mich an, blickte mir gerade in die Augen. «Und Sie», fragte er mich, und seine Stimme klang vorwurfsvoll, spitz, «wo sind Sie eigentlich gewesen, in jener Nacht?»
    Ich stand da wie ein Trottel. Schnell trat Clémence neben mich. Ich sah sie an, und sie war noch genauso schön, durchscheinend, aber schön. Was sollte ich Despiaux antworten? Er wartete auf eine Antwort, doch mir blieb der Mund offen, ich sah ihn an, sah die Leere, sah Clémence, die nur ich erkennen konnte. Despiaux zuckte die Achseln, zog seinen Hut tiefer ins Gesicht und wandte sich ab, ohne sich zu verabschieden. Dann ging er. Zurück zu seiner Trauer. Wahrscheinlich wusste er genauso gut wie ich, dass man sich in die Trauer zurückziehen kann wie in ein eigenes Land.

    XIX

    Madame de Flers führte mich endlich zu Clémence. Ich kannte sie vom Sehen. Sie stammte aus einer alten Familie in V. Gute Gesellschaft. Leute wie Destinat. Ihr Mann, der Kommandant, war im September 1914 gefallen. Ich erinnere mich, dass ich eine schlechte

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