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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Claudel
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Meinung von ihr hatte und dachte, ihre Witwenschaft stehe ihr so gut wie ein Abendkleid und sie werde damit kokettieren, um bei Einladungen des Präfekten oder auf Wohltätigkeitsbasaren noch hochmütiger aufzutreten. Manchmal bin ich dumm und verbittert. Sie aber wollte sich nützlich machen, deshalb verließ sie V. und ihr Haus, das so weitläufig war wie das Schloss von Versailles, und kam zu uns, ins Krankenhaus. Manche Leute sagten: «Das wird sie keine drei Tage aushalten, wenn die erst mal Blut und Kot sieht, wird sie in Ohnmacht fallen.»
    Aber sie blieb, trotz Blut und Kot, und sie ließ ihre Sonderstellung und ihr Vermögen durch grenzenlose Güte und einfache Taten in Vergessenheit geraten. Sie schlief in einem Dienstmädchenzimmer und verbrachte ihre Stunden, Tage und Nächte am Bett der Sterbenden oder Auferstandenen. Der Krieg massakriert, verstümmelt, beschmutzt, besudelt, höhlt aus, trennt, zerquetscht, zerhackt, tötet, aber mitunter kann er auch etwas gerade rücken.
    Madame de Flers nahm meine Hand. Sie führte mich. Ich ließ es mir gefallen. Sie entschuldigte sich: «Wir haben keine Zimmer mehr, keinen Platz ...» Wir kamen in einen riesigen, von Röcheln erfüllten Bettensaal, in dem ein säuerlicher Geruch nach Verbänden, Eiter und Schmutz in der Luft lag. Es war der Geruch von Verletzungen, Qual und Wunden, nicht der Geruch des Todes, der reiner und abstoßender ist. Dreißig, vielleicht auch vierzig Betten standen da, alle belegt, darauf längliche, von Verbänden bedeckte Formen, die sich kaum merklich bewegten. In der Mitte des Zimmers befanden sich vier weiße, senkrecht von oben nach unten gespannte Laken, die eine Art leichten, tragbaren Alkoven bildeten. Dort lag Clémence, inmitten all der Soldaten, die von ihr ebenso wenig wussten wie sie von ihnen.
    Madame de Flers schob ein Laken beiseite, und ich sah sie. Sie lag ausgestreckt, mit starrem Gesicht, geschlossenen Augen und auf die Brust gelegten Händen. Sie atmete mit majestätischer Langsamkeit, ihre Brust hob sich, aber ihre Gesichtszüge blieben unbewegt. Neben dem Bett stand ein Stuhl. Ich fiel mehr darauf, als dass ich mich setzte. Mit einer zarten Bewegung legte Madame de Flers die Hand auf ihre Stirn, streichelte sie und sagte: «Dem Kind geht es gut.» Ich sah sie verständnislos an. Dann sagte sie: «Ich lasse Sie allein, bleiben Sie, so lange Sie möchten.» Sie schob ein Laken beiseite, dann verschwand sie hinter dem Weiß. Die ganze Nacht blieb ich bei Clémence. Ich sah sie an. Sah sie nur an, in einem fort. Ich wagte nicht, mit ihr zu sprechen, aus Angst, einer der Verwundeten könnte meine Worte hören. Ich legte meine Hand auf sie, um ihre Wärme zu spüren und ihr von meiner abzugeben, so fest war ich mir zurückzukehren. Sie war schön. Vielleicht etwas blasser, als ich sie am Vortag verlassen hatte, aber auch zarter, als habe der tiefe Schlaf, in dem sie umherirrte, jede Beunruhigung, alle Sorgen und Leiden des Tages verscheucht. Ja, sie war schön. Nie werde ich sie hässlich, alt, faltig oder verbraucht gesehen haben. All diese Jahre lebe ich mit einer Frau, die nie gealtert ist. Ich gehe gebückt, meine Stimme krächzt, meine Knochen werden brüchig, ich bekomme Falten, aber sie bleibt, wie sie war, ohne Makel, ohne Plumpheit. Wenigstens das hat der Tod mir gelassen, und keiner kann es mir nehmen, auch wenn die Zeit mir ihr Gesicht geraubt hat, nach dem ich so eigensinnig forsche, weil ich es wieder finden möchte, wie es gewesen ist. Und dann blitzt ihr Antlitz manchmal, wie eine Wiedergutmachung, vor mir auf, im Licht des Weines, den ich trinke.
    Die ganze Nacht stammelte der Soldat, der links von Clémence lag, meiner Sicht aber durch das aufgespannte Laken entzogen war, eine Geschichte ohne Anfang und Ende vor sich hin. Mal summte er, mal ereiferte er sich. Ich konnte nicht verstehen, an wen er sich wandte, ob an einen Kameraden, eine Verwandte, eine Geliebte oder sich selbst. In seiner Litanei kam alles Mögliche vor, nicht nur der Krieg, sondern auch Geschichten von Erbschaften, Wiesen, die gemäht werden mussten, Dächern, die repariert werden sollten, Hochzeitsfeiern, ertränkten Kätzchen, Bäumen voller Raupen, bestickter Aussteuer, Karren, Messdienern, Überschwemmungen, Matratzen, die man verliehen und nicht zurückbekommen hatte, Holz, das gehackt werden musste. Es war eine regelrechte Mühle aus Worten, die unablässig alle Augenblicke seines Lebens umwälzte und sie in beliebiger Abfolge

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