Die grauen Seelen
dem Kopf, so wie die Engelchen an der Krippe, die lange dankbar nicken, wenn man ein Geldstück eingeworfen hat. Ohne noch etwas zu sagen, begann er wieder mit seinem Lied, das von reifem Korn, Lerchen, Hochzeit und Blumensträußen handelte.
Ich blieb einige Zeit bei ihm, sah ihn an, vor allem seine Hände, und fragte mich, ob das wohl die Hände eines Verbrechers seien. Als ich hinausging, wendete er nicht den Kopf, sondern sang leicht schwankend weiter. Anderthalb Monate später, nachdem er wegen Desertion und Mord vor dem Militärgericht erschienen war, wurde er von beiden Anklägern für schuldig befunden und unmittelbar darauf standrechtlich erschossen. Der Fall war gelöst.
Mierck und Matziev war es gelungen, in einer einzigen Nacht aus einem kleinen Bauern erst einen halb Verrückten, dann einen geständigen Schuldigen zu machen. Natürlich erfuhr ich von den Ereignissen in der bewussten Nacht erst später, als ich endlich Despiaux ausfindig gemacht hatte. Ich erfuhr aber schon damals, dass weder der Richter noch der Oberst zum Staatsanwalt gegangen waren, um ihn zu befragen. Was Joséphine erzählt hatte, war in Vergessenheit geraten, und ich habe mich häufig gefragt warum. Schließlich hasste Mierck Destinat, das war sonnenklar. Die Gelegenheit war günstig, seinen guten Namen und sein Cäsarengesicht in die Gosse zu treten.
Aber ich glaube, es gibt etwas, das stärker ist als der Hass, nämlich die Gepflogenheiten einer bestimmten Gesellschaftsschicht. Destinat und Mierck gehörten derselben Welt an, die durch gute Herkunft, Erziehung in Spitzenkragen, Handküsse, Motorfahrzeuge, Holztäfelungen und Geld bestimmt war. Über allen persönlichen Launen, höher als alle Gesetze, die Menschen erlassen können, stehen in ihr ein geheimes Einverständnis und unbedingte Höflichkeit: «Tust du mir nichts, tu ich dir nichts.» Anzunehmen, einer der eigenen Leute könnte ein Mörder sein, hieße glauben, man könnte auch selbst einer werden. Es würde bedeuten, man bewiese vor aller Augen, dass Männer, die uns das Wort im Mund herumdrehen und uns von oben herab betrachten, als wären wir Fliegendreck, eine nicht weniger verdorbene Seele haben und nicht mehr wert sind als alle anderen auch. Und das wäre der Anfang vom Ende, vom Ende ihrer Welt. Es kann also nicht geduldet werden.
Und außerdem, warum hätte Destinat Belle de Jour töten sollen? Dass er mit ihr sprach, war ja möglich, aber sie töten?
In den Taschen des kleinen Bretonen fand man bei seiner Verhaftung einen in der linken oberen Ecke mit einem Bleistiftkreuz markierten Fünf-Franc-Schein. Adelaide Siffert bezeugte in aller Form, dass es sich dabei um den handelte, den sie ihrer Patentochter an jenem Sonntag gegeben hatte. Die Kreuze waren ihr Tick, sie markierte die Geldscheine, um zu zeigen, dass sie wirklich ihr gehörten und niemandem sonst.
Der Deserteur schwor, er habe den Schein am Kanal gefunden, auf der Uferböschung. Er war also wirklich dort entlanggegangen. Ja, und was weiter? Was beweist das? Sie hatten sogar dort geschlafen, der Drucker und er, aneinander gedrängt unter der rot gestrichenen Brücke, geschützt vor Kälte und Schnee: Die Gendarmen hatten das platt gedrückte Gras gesehen und den Abdruck zweier Körper. Auch das hatte er ohne Umschweife zugegeben.
Am anderen Ufer, fast gegenüber der Stelle, wo die kleine Tür in den Schlosspark führt, befindet sich das Labor der Fabrik, ein nicht besonders hohes, lang gestrecktes Gebäude, das aussieht wie ein großer, bei Tag und Nacht erleuchteter Glaskäfig. Bei Tag und Nacht, weil die Fabrik niemals stillsteht und weil im Labor permanent zwei Ingenieure Dienst tun, um die Dosierungen und die Qualität dessen zu überprüfen, was aus dem Bauch des Ungeheuers quillt.
Als ich darum bat, mit den Männern sprechen zu dürfen, die in der Nacht, als das Verbrechen geschah, Dienst taten, sah Arsene Meyer, der Personalchef, nur den Bleistift an, den er in der Hand hielt, und wendete ihn in alle Richtungen.
«Steht da die Antwort drauf?», fragte ich. Wir kannten uns lange, und außerdem war er mir etwas schuldig: Ich hatte ein Auge zugedrückt, als sein Ältester, ein richtiger Tunichtgut, im Jahr 1915 geglaubt hatte, das Armeematerial, das in Schuppen auf der Place de la Liberte zwischengelagert war, also Decken, Kochgeschirr und Essensrationen, gehöre ihm. Ich hatte den langen Einfaltspinsel bloß ein bisschen zusammengestaucht. Er brachte alles zurück, und ich erstattete
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