Die grauen Seelen
Alte, die bei allen Beerdigungen dabei waren – und ich. Pater Lurant sprach das letzte Gebet. Wir hörten mit gesenktem Kopf zu. Ostrane legte seine schwieligen Hände auf den Schaufelstiel. Ich sah die Landschaft an, die Wiesen, die bis zur Guerlante reichten, die Anhöhe mit den kahlen Bäumen und den schmutzig braunen Wegen, den zugezogenen Himmel. Die Alten warfen eine Blume auf den Sarg. Der Pfarrer schlug das Kreuz. Ostrane begann, Erde ins Grab zu schaufeln. Ich ging als Erster. Ich wollte nicht dabei zusehen.
In der folgenden Nacht hatte ich einen Traum. Clemence lag unter der Erde und weinte. Tiere aller Art krochen auf sie zu, mit hässlichen Köpfen, Fangzähnen und Krallen. Sie schützte ihr Gesicht mit den Händen, aber die Tiere kamen näher, fielen schließlich über sie her, bissen sie, rissen kleine Stücke aus ihrem Fleisch und verschlangen sie. Clémence sagte meinen Namen. In ihrem Mund waren Sand und Wurzeln, und ihre Augen, die keine Pupillen mehr hatten, waren weiß und stumpf. Ich fuhr aus dem Schlaf hoch. Schweißgebadet, keuchend. Da habe ich gemerkt, dass ich allein im Bett lag. Ich habe verstanden, wie groß und leer ein Bett sein kann. Ich habe an sie gedacht, dort unten, unter der Erde, in dieser ersten Nacht des Exils. Ich habe geweint wie ein Kind.
Tage vergingen, wie viele, weiß ich nicht. Und Nächte. Ich ging nicht mehr nach draußen. Ich zögerte, war unentschlossen. Ich nahm Gachentards Karabiner von der Wand, schob eine Kugel ins Magazin, steckte mir den Lauf in den Mund. Ich war von morgens bis abends betrunken. Das Haus sah aus wie ein Schweinekoben und roch wie eine Gruft.
Kraft schöpfte ich nur aus den Weinflaschen. Manchmal
schrie ich, hämmerte gegen die Wände. Einige Nachbarinnen besuchten mich, aber ich warf sie hinaus. Und dann, eines Morgens, an dem ich beim Anblick meines Robinsongesichts im Spiegel vor mir selbst erschrak, kam eine Schwester aus dem Krankenhaus und klopfte an die Tür.
In ihren Armen trug sie ein kleines Bündel aus Wolle, das sich schwach bewegte: Es war das Kind. Aber davon werde ich später erzählen, nicht jetzt. Ich werde davon berichten, wenn ich mit allem anderen fertig bin.
XX
Mierck hatte den kleinen Bretonen ins Gefängnis von V. sperren lassen, obwohl die Armee ihren Wunsch bekräftigt hatte, ihn standrechtlich zu erschießen. Es ging allen Ernstes darum, wer ihn als Erster um die Ecke bringen durfte. Dafür benötigte man etwas Zeit. Was mir Gelegenheit gab, ihn zu besuchen. Er war seit sechs Wochen da.
Das Gefängnis kannte ich. Es war ein ehemaliges mittelalterliches Kloster. Häftlinge hatten die Mönche abgelöst. Das war alles. Ansonsten hatte sich das Gebäude nicht wesentlich verändert. Das Refektorium war immer noch der Speisesaal, die Zellen blieben Zellen. Man hatte nur einige Gitterstäbe, Türen und Schlösser eingebaut und auf den Oberkanten der Mauern mit Stacheldraht umwickelte Metallpfähle eingeschlagen. Licht drang kaum in das große Gebäude. Es war immer dunkel dort, selbst bei hellem Sonnenschein. Sobald man es betrat, überfiel einen das Bedürfnis, es schnellstens wieder zu verlassen, wenn möglich im Galopp. Ich behauptete, der Richter habe mich geschickt. Das stimmte nicht, aber niemand fragte nach einer Bestätigung. Man kannte mich.
Als der Aufseher mir die Zellentür des kleinen Bretonen öffnete, konnte ich zunächst nicht viel erkennen. Aber ich hörte etwas. Er sang, ganz leise, mit einer Kinderstimme, die übrigens angenehm war. Der Aufseher ließ mich dort und schloss die Tür. Meine Augen gewöhnten sich an das Dunkel, und ich sah ihn: Er kauerte vornüber gebeugt und mit unters Kinn gezogenen Knien in einer Ecke des Raumes, wiegte den Kopf hin und her und sang dabei sein Lied. Ich sah ihn zum ersten Mal. Er wirkte jünger, als er eigentlich war. Er hatte schöne blonde Haare und blaue Augen, die auf den Boden starrten.
Ich weiß nicht, ob er mich kommen gehört hatte, aber als ich ihn ansprach, schien er nicht überrascht. «Du bist der Mann, der die Kleine ermordet hat?», fragte ich ihn.
Er hörte mit seinem Lied auf und trällerte, ohne den Blick zu heben, auf dieselbe Melodie: «Ich war's, ich war's. Ja wirklich, ich war's, ja wirklich, ich war's ...» Ich sagte: «Ich bin weder der Richter noch der Oberst, vor mir brauchst du keine Angst zu haben, du kannst mir alles erzählen.»
Und er blickte zu mir auf, mit einem abwesenden Lächeln, als sei er bereits weit weg. Er wackelte mit
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