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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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waren Sisels Stärke und verdeutlichten, warum er von König Olin gegen den Protest seiner eigenen Glaubensoberen in Syan (denen er nicht entschieden genug die Politik des gegenwärtigen Trigonarchen unterstützte) für ein so wichtiges Amt erwählt worden war. Er sprach die vertrauten Worte mit glaubwürdiger Anteilnahme und Ehrerbietung. Als die tröstliche hierosolinische Litanei die Erivor-Kapelle erfüllte, konnte Briony sich schon fast einreden, sie hätte eins jener Echos der Vergangenheit gefunden, ein Relikt der Zeiten, da sie während des Gottesdienstes mit ihren Brüdern geflüstert hatte, sehr zum Ärger Merolannas und des alten Mantis, Vater Timoid, dem sehr wohl klar gewesen war, daß der König niemandem erlauben würde, seine Kinder wegen eines Vergehens zu schelten, das er selbst für so unbedeutend hielt.
    Aber ich bin kein Kind mehr. Vor dem hier kann ich mich nirgends verstecken.
    Als Sisel die Worte des Epitaphs zu sprechen begann und die Edelleute pflichtschuldig die Kernsätze wiederholten, wurde Briony durch ein Gezischel neben sich abgelenkt. Moina sprach scharf, aber leise auf einen kleinen Pagen ein.
    »Was will der Junge?« fragte Briony.
    »Ich komme von Eurem Bruder, Hoheit«, erklärte das Kind.
    Briony tat ihr Bestes, sich trotz der starren, beengenden Kleidung zu dem Knaben hinabzubeugen; es drückte ihr die Luft ab. »Barrick?« Aber natürlich, es mußte ja Barrick sein. Wenn ihr älterer Bruder ihr eine Botschaft geschickt hätte, würde sie wohl kaum von einem kleinen Jungen mit einer Rotznase überbracht. »Ist er wohlauf?«
    »Es geht ihm besser. Er läßt sagen, Ihr sollt nicht in die Kr ... die Kr ...« Vor lauter Nervosität wußte der Junge das Wort nicht mehr.
    Der kleine Kerl sieht sich immerhin der Göttin der Nacht gegenüber,
dachte sie.
Seid Ihr jetzt zufrieden, Brone? Ich bin kein weinendes Mädchen mehr — ich bin jetzt etwas, das Kindern angst macht.
»Die Krypta?«
    »Ja, Hoheit.« Der Junge nickte eifrig, konnte sie aber immer noch nicht angucken. »Er sagt, Ihr sollt nicht in die Krypta gehen, ehe Ihr nicht gesehen habt, was er Euch schickt.«
    »Was er mir schickt?« Briony sah zu Rose hinüber, die in dumpfem Elend auf den Sarg starrte. Er war mit dem Wolf-und-Steme-Banner der Eddons bedeckt, aber das machte ihn nicht minder schrecklich. Hinter sich hörte Briony jetzt die Höflinge laut flüstern, und Ärger stieg in ihr auf. »Was reden diese Schwachköpfe? Rose, hast du gehört, was der Junge sagt? Was könnte Barrick mir schicken?«
    »Mich selbst.«
    Sie drehte sich um, und ihr Herz hämmerte. In dem langen schwarzen Mantel, der sein weißes Nachtgewand nur notdürftig bedeckte, und noch bleicher als sonst, hätte er Kendrick im Leichentuch sein können. Ihr Zwillingsbruder stand im Mittelgang der Kapelle, flankiert von zwei Wachen, die ihn aufrecht hielten. Allein schon hierherzukommen, schien eine immense Anstrengung gewesen zu sein; sein Gesicht war schweißfeucht, und sein Blick hatte nicht die Kraft, bis zu ihr zu gelangen.
    Briony stemmte sich hoch und zwängte sich an Moina vorbei, froh, daß sie ganz vorn in der Kapelle saß und nicht zwischen zwei Bankreihen eingequetscht wie eine Karavelle in einer zu engen Liegebucht. Sie umarmte Barrick, so gut es in den schweren Kleidern und dem beengenden Mieder ging, und dann erst wurde ihr klar, daß zweifellos die ganze Kapelle herstarrte. Sie lehnte sich ein wenig zurück und küßte ihn auf die Wange, die noch heiß vom Fieber oder von der Anstrengung war.
    »Aber, du wunderbarer Narr«, sagte sie leise, »was machst du denn hier? Du gehörst doch ins Bett!«
    Er hatte ihre Umarmung steif über sich ergehen lassen; jetzt trat er einen Schritt zurück und schüttelte die beiden Wachen, die ihm helfen wollten, ab. »Was ich hier mache?« fragte er laut. »Ich bin ein Prinz des Hauses Eddon. Hast du gedacht, du würdest unseren Bruder ohne mich begraben?«
    Briony schlug sich die Hand vor den Mund, überrascht von seinem Ton, aber noch schockierter von dem kalten Ärger in seinem Blick. Doch irgend etwas in ihrem Gesicht schien ihn auf eine Art zu berühren, wie es die Umarmung und der Kuß nicht vermocht hatten: Seine Züge wurden weich, und er sackte ein wenig in sich zusammen. Einer der Wachsoldaten faßte ihn am Ellbogen. »Oh, Briony, es tut mir leid. Ich war so krank. Es war so schwer, hierherzukommen, ich mußte alle paar Schritte stehenbleiben, um wieder zu Atem zu kommen, aber ich mußte es tun

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