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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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Ecke eines mächtigen Fensters, vor dem Buntglas wie vor dem Hintergrund eines Gemäldes. Zwar war die Kapelle voller Menschen, aber wenn jemand den Schatten unten im Fenster bemerkt hatte, dann hatte er wohl befunden, es wäre nur Schmutz oder angewehtes Laub.
    Eine Schar Bediensteter eilte vom Friedhof in Richtung Hauptburg hinauf. Sie trugen noch immer die Körbe, die sie vor einer Stunde dort hinuntergebracht hatten, in denen jetzt aber nur noch einige wenige Blütenblätter lagen; den Rest hatten sie in der Gruft und auf dem gewundenen Friedhofsweg verstreut. Der Junge sah nicht zu ihnen hinab, und sie waren alle viel zu sehr mit der eben beendeten Arbeit und ihrer geflüsterten Unterhaltung beschäftigt, um aufzublicken.
    Etwas über seinem Kopf lenkte den Blick des Jungen empor. Ein großer gelb-schwarzer Schmetterling ließ sich am Rand des Daches nieder, blieb dort sitzen und schlug mit den Flügeln, so langsam wie ein ruhig pumpendes Herz. Es war spät im Jahr für Schmetterlinge.
    Die kurzen, dreckigen Finger des Jungen fanden die Umrandung des Fensters, und er zog sich empor, bis er aufrecht am Rand des Bleiglasfensters stand. Jeder Beobachter drinnen hätte jetzt bemerkt, daß sich der Laubhaufen plötzlich in eine senkrechte Säule verwandelt hatte, aber von hinter dem Glas kam kein Laut außer den steten, tiefen Stimmen eines Chors, der das Lied des Kernios sang, den längsten und ausführlichsten aller Totengesänge. Kurz darauf war die Schattensäule verschwunden und das Fenster wieder frei.
    Flint zog sich auf eines der hervorstehenden Steinornamente empor, die die Außenwand der Kapelle schmückten, tastete sich dann wie eine Spinne seitwärts auf ein zweites hinüber, ehe er auf ein höher gelegenes kletterte. Binnen weniger Augenblicke, noch während sich ein Tor am anderen Ende des Friedhofs hinter den Korbträgern schloß und ihre Stimmen verklangen, war er auf dem Dach.
    Das Dach der Kapelle war ein mächtiges, schräges Feld von Dachziegeln, aus dem alle paar Schritt Kamine wie Bäume wuchsen. Moos und selbst Grasbüschel zwängten sich zwischen den Ziegeln hervor, und der Herbstwind hatte Laub an den Kaminen abgelagert wie Wehen von rotbraunem Schnee. Von hier aus waren noch viele andere Dächer sichtbar, Plateaus, so dicht, daß sie einander verdrängen zu wollen schienen, aber der Großteil der von Türmen gekrönten Hauptburg erstreckte sich hoch über seinem Kopf nach allen Seiten, wie die Wiederholung des Kaminwaldes im Riesenformat.
    Das alles schien Flint nicht zu interessieren. Er lag zunächst einfach nur auf dem Bauch und starrte dorthin, wo der Schmetterling jetzt nahe dem Firstbalken saß und träge mit den Flügeln schlug. Indem der Junge die Füße gegen die Moosnester und emporgedrückten Ziegel stemmte, kroch er aufwärts, bis er nur noch eine Armlänge von dem Tier entfernt war. Er streckte die Hand aus, und der Schmetterling, der ihn jetzt plötzlich bemerkte, taumelte über den First und verschwand, aber der Junge hielt nicht inne. Seine Finger schlossen sich um etwas anderes, und er pflückte es aus dem Gras und hielt es sich dicht vor die Augen.
    Es war ein Pfeil, so klein wie eine Stopfnadel. Er kniff die Augen zusammen. Der Pfeil war befiedert, genau im Gelb-Schwarz der Schmetterlingsflügel.
    Eine ganze Weile lag der Junge stumm und reglos da und starrte den Pfeil an. Ein Beobachter hätte meinen können, er schliefe mit offenen Augen, so still lag er, aber der Beobachter hätte sich getäuscht. Abrupt robbte der Junge zum nächsten Kamin, so schnell wie eine angreifende Schlange. Seine Hand fuhr erst hierhin, dann dahin, griff nach etwas, das durch den kleinen Graswald am Fuß des Backsteins flüchtete.
    Seine Hand schloß sich, und plötzlich wurden seine Bewegungen wieder ruhig. Er zog die Faust an sich und hielt sie dicht am Körper, während er sich so hinsetzte, daß er mit dem Rücken am Kamin lehnte. Als er die Hand öffnete, bewegte sich das zusammengerollte Etwas darin nicht, bis er es sachte mit dem Finger stupste.
    Der kleine Mann, der sich jetzt herumdrehte und in Flints hohler Hand kauerte, war kaum größer als dieser Finger. Die Haut des Männchens schien rußig-dunkel, aber es war schwer zu sagen, was davon wirklich Haut und was Dreck war. Seine Augen waren geweitet, kleine weiße Pünktchen im Schattendunkel der Hand. Er versuchte, davonzuspringen, aber Flint krümmte die Finger zu einem Käfig, und der kleine Mann kauerte sich entmutigt wieder hin.

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