Die Grenze
Gekleidet war er in Lumpen und kleine Stücken von grauem Pelz. Er trug weiche Stiefel und hatte einen zusammengerollten, groben Faden über der Schulter und einen Köcher mit Pfeilen auf dem Rücken.
Flint beugte sich vor und pickte etwas aus dem Gras. Es war ein Bogen, die Sehne so fein, daß man sie kaum sah. Flint musterte den Bogen einen Augenblick, legte ihn dann neben dem kleinen Mann in seine Hand. Der Gefangene sah von dem Bogen zu seinem Bezwinger empor, nahm dann den Bogen und ließ ihn staunend von einer Hand in die andere wandern, als hätte sich die winzige Waffe grundlegend verändert, seit er sie das letzte Mal berührt hatte. Flint starrte das Männlein mit unbewegter Miene an.
Der kleine Mann schluckte. »Tut mir kein Leid, Herr, ich bitt Euch«, flötete er, und in seinen Augen, wo vorher nur Todesangst gewesen war, stand jetzt so etwas wie Hoffnung. »Ich gebe mich in ehrenhaftem Kampf geschlagen, der Himmel sei mein Zeuge. Tut einen Wunsch, und ich will ihn erfüllen. Ein jeder weiß, ein Dachling hält sein Wort.«
Flint zog die Brauen zusammen, setzte das Männlein dann auf die Ziegel. Der Gefangene rappelte sich hoch, zögerte, tat ein paar Schritte, blieb wieder stehen. Flint rührte sich nicht. Verwirrung im winzigen Gesicht, drehte sich der kleine Mann schließlich um und begann, die moosigen Pfade zwischen den Ziegeln hinaufzuklettern. Der Bogen baumelte in seiner Hand, während er in Richtung First strebte. Alle paar Schritt sah er sich um, als rechnete er damit, daß sich seine Freiheit nur als grausames Spiel entpuppen würde, aber als er den Dachfirst erreichte, hatte sich der Junge immer noch nicht gerührt.
»Oh, Ihr seid ein guter junger Herr«, rief der winzige Mann, dessen Stimme über die anderthalb Schritt kaum zu hören war. »Giebelgaup und seine Kindeskinder werden Eurer stets gedenken. Das sei gelobt!« Er verschwand über den Firstbalken.
Flint blieb an dem Kamin sitzen, bis die Sonne hoch über ihm stand und das dumpfe Klagen des Chores drunten verstummt war. Dann machte er sich an den Abstieg.
Sie war froh, daß Rose mit dem Taschentuch neben ihr stand, und wütend auf sich selbst, weil sie es brauchte. Es war kaum zu glauben, wie schrecklich ein lackierter Holzkasten sein konnte. Die monotonen Trauergesänge schleppten sich immer weiter dahin, aber auch dafür war sie dankbar, denn es gab ihr Zeit sich zu fassen.
Es schien eine Schande, Kendrick in einem Leihsarg in die Gruft zu bringen, aber es war keine Zeit gewesen, einen angemessenen Sarg fertigzustellen. Ja, Nynor hatte ihr versichert, die Funderlinge hätten schon alles gegeben, um nur das Grab selbst vorzubereiten. Der eigentliche Sarg mit Kendricks steinernem Abbild brauche Zeit, hatte er erklärt — sie wolle doch wohl nicht, daß ein unvollkommenes Bildnis ihres Bruders in die Ewigkeit blicke, als ob man ihn gezwungen hätte, sich hinter einer rohen Maske zu verstecken? Man könne Kendrick ja umbetten, sobald der Steinsarg fertig sei.
Dennoch, es schien eine Schande.
Obwohl das königliche Gestühl ganz vorn in der Kapelle auch Mitglieder des engeren Haushalts beherbergte — darunter Rose und Moina, ein tränenlos, aber düster dreinblickender Chaven und selbst der alte Puzzle, heute im grau-schwarzen Narrenkleid und barhäuptig, die dünnen Haarsträhnen über den Schädel gestriegelt —, war es doch nur halb voll. Brionys Stiefmutter Anissa saß ein Stück weiter neben Merolanna, die Arme schützend überm Bauch verschränkt. Ihr Gesicht war hinter einem schwarzen Schleier verborgen, aber sie schluchzte und schniefte laut.
Immerhin haben wir etwas gefunden, das sie aus dem Bett zu locken vermochte,
dachte Briony bitter. Sie hatte in letzter Zeit nicht viel von der Königin gesehen. Es war, als hätte Anissa den Frühlingsturm in eine Festung verwandelt: Sie hatte sämtliche Fenster mit schweren Tüchern verhängt und sich mit Frauen umgeben, wie ein belagerter Monarch Soldaten um sich scharte. Briony war mit ihrer Stiefmutter nie recht warm geworden, aber jetzt verspürte sie erstmals echte Abneigung.
Dein Gemahl ist in Gefangenschaft, Weib, und einer seiner Söhne wurde ermordet. Selbst mit einem Kind im Leib hast du doch gewiß andere Pflichten, als dich nur in deinem Nest zu verkriechen wie eine brütende Krähe.
Der Chor war jetzt endlich fertig, und Hierarch Sisel, in seinem besten rot-silbernen Ornat, nahm seinen Platz vor dem Sarg ein, um die Begräbnisformeln zu sprechen. Solche Dinge
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