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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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verloren und nicht wiedergefunden. Er hatte nichts gesehen, was ihm bekannt vorgekommen wäre. Es fiel schwer, nicht zu glauben, daß der Wald um ihn herum sich immer weiter ausdehnte, daß sich seine Grenze schneller verschob, als er und Saddler reiten konnten, und daß nicht nur sie nicht wieder hinausfinden würden, sondern der Wald bald alles bedecken würde, was Vansen je gekannt hatte, wie Wein, der aus einem umgekippten Krug auf den Tisch lief.
    Saddlers Stimmung beunruhigte ihn ebenfalls. Der bärtige Gardesoldat war ihm immer ferner erschienen, obwohl ihre Pferde Schulter an Schulter gingen; er sprach kaum ein Wort mit seinem Hauptmann, redete aber viel vor sich hin und sang Fetzen von alten Liedern, die Vansen so vorkamen, als müßte er sie kennen, die er aber nicht identifizieren konnte. Außerdem sah ihn der Mann immer wieder so seltsam an — zweifelnd, als ob er den Kameraden, der doch über Jahre hinweg täglich mit ihm zusammengewesen war, nicht mehr recht wiedererkannte.
    Es ist irgend etwas hier in der Luft,
dachte Vansen verzweifelt.
Irgendwas im Schatten dieser Bäume. Dieser Ort frißt uns auf.
Es war ein schrecklicher Gedanke, aber er konnte ihn nicht mehr aus seinem Kopf vertreiben. In einer traumartigen Vision sah er sich und Saddler an der verschwundenen Straße liegen, tot und verfaulend wie die Frau, die er einst in ihrer Kate gefunden hatte, aber nicht Insekten würden sie fressen, sondern der Wald selbst — grüne Ranken würden ihnen in Mund, Nase und Ohren wachsen, feuchter, dunkler Pflanzenwuchs würde aus ihren Bäuchen und Schädeln sprießen, ihre Brustkörbe ausfüllen.
    Vielleicht ist die Vision ja Wirklichkeit,
dachte er.
Vielleicht sind wir ja schon tot oder jedenfalls beinah. Vielleicht verschwinden unsere Körper ja schon unterm Moos, und wir träumen nur, daß wir durch dieses düstere Land reiten, unter diesen endlosen, verfluchten Bäumen.
    »Ich fühle die Feuer«, sagte Saddler unvermittelt.
    »Welche Feuer?« Die Pferde waren stehengeblieben, verharrten seltsam still und reglos. Sie waren in einer engen, bewaldeten Schlucht. Vansen fühlte sich wie im Maul eines riesigen Wesens, das jeden Moment die Kiefer schließen und sie für immer im Dunkel verschwinden lassen würde.
    »Die Schmiedefeuer«, antwortete der bärtige Soldat mit ferner Stimme. »Die, die unter der Höhe des Schweigens brennen. Sie schmieden Kriegswaffen, Leuchtfinger, Singpfeile, Wespen, Grausame Steine. Das Volk ist erwacht. Es ist erwacht.«
    Während er noch Saddlers bizarrer Äußerung irgendeinen Sinn abzuringen suchte, fühlte Vansen einen scharfen, aber lautlosen Wind die Schlucht entlangwehen. Die Nebel wirbelten empor und teilten sich, und für einen Moment glaubte er eine ganze Stadt über der Schlucht liegen zu sehen, eine Stadt, die ebenfalls Teil des Waldes war, eine Masse aus dunklen Bäumen und noch dunkleren Mauern, beides fast ununterscheidbar, mit Licht in tausend Fenstern. Sein Pferd scheute und floh vor dieser Vision, stürmte den Pfad entlang, den sie gekommen waren. Er hörte dicht hinter sich den Hufschlag von Saddlers Pferd und noch ein anderes Geräusch.
    Sein Gefährte sang leise, aber überschwenglich, in einer Sprache, die Vansen noch nie gehört hatte.
     
    Saddler war immer noch hinter ihm, aber jetzt gänzlich stumm: Er hatte keine der Fragen seines Hauptmanns beantworten wollen, und Vansen hatte es aufgegeben zu fragen, war einfach nur froh, nicht allein zu sein. Das Dämmerdunkel hatte sich verdichtet. Der Gardehauptmann war nicht mehr imstande, irgendeinen Unterschied im Moosbewuchs der Bäume festzustellen — ja, er konnte die Bäume in dem Dunkel überhaupt nur noch schwer ausmachen. Die Stimmen, die der Wind mit sich trug, waren tief in seinen Kopf gekrochen, gurrten und flüsterten und durchwoben seine Gedanken mit Melodiefetzen, in denen sie sich verhedderten, so wie sich die dichten Dornenranken um die Hufe der Pferde schlangen, die deshalb immer langsamer gingen.
    »Sie kommen«, verkündete Saddler plötzlich im Ton eines erschrockenen Träumers. »Sie marschieren.«
    Ferras Vansen brauchte nicht zu fragen, was er meinte: Er spürte es ebenfalls, die wachsende Spannung in der Luft, die weitere Verdichtung der Düsternis. Er hörte den Triumph in den wortlosen Windstimmen, obwohl er die Stimmen selbst nicht hörte, nur ihren Widerhall tief in seiner Schädelhöhle.
    Sein Pferd scheute plötzlich laut wiehernd. Es kam so überraschend, daß Vansen aus dem

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