Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
Sattel kippte und zu Boden krachte. Das Pferd verschwand im Wald, stürmte wild auskeilend und panisch schnaubend durchs Unterholz. Vansen war zunächst zu benommen, um aufzustehen, aber eine Hand packte ihn und zog ihn hoch. Es war Collum Saddler, dessen Pferd jetzt ebenfalls verschwunden war. Im Gesicht des Gardesoldaten leuchtete etwas, das Freude hätte sein können, aber auch ein wenig wie die panische Angst aussah, die Vansen selbst fühlte, so heftig, daß er sich nur wieder zu Boden werfen und den Kopf im feuchten Gras vergraben wollte.
    »Da«, sagte Saddler.
»Da.«
    Und plötzlich sah Vansen die Straße wieder, die sie stundenlang vergeblich gesucht hatten. Sie wand sich nur ein kleines Stück weiter durch den Wald — aber er nahm sie kaum zur Kenntnis. Auf der Straße wälzten sich Nebelschwaden, und in dem Nebel sah er Gestalten. Manche waren, wenn der Nebel sie nicht gespenstisch verzerrte, baumlang, andere unglaublich breit, vierschrötig und kräftig. Da waren Schattengestalten, die nichts mit normaler Wirklichkeit gemein hatten, und andere, die weniger beängstigend, aber dennoch verblüffend waren, wie menschliche Reiter, nur vage erkennbar, aber schmerzlich schön, hoch und aufrecht auf Pferden, die stampften und schnaubten und die Luft mit Dampf erfüllten. Viele der Reiter trugen Lanzen, die wie Eis funkelten. Fähnchen in Silber und morastigem Grüngold wehten an ihren Spitzen.
    Ein Heer zog vorbei, Hunderte, ja vielleicht Tausende von Gestalten zu Pferd und zu Fuß — und einige sogar in der Luft: Schattenwesen, ein ganzer Schwarm, flatterten und segelten über dem mächtigen Zug einher, glitzerten in dem Mondlicht, das sich in ihren Flügeln brach, wie eine Handvoll emporgeworfener Fischschuppen. Doch obwohl Vansen das Stampfen all dieser Hufe, Füße, Pfoten und Klauen bis in die Knochen spürte, machte der Heerwurm nicht das leiseste Geräusch. Nur die Stimmen im Wind schwollen jubelnd an, als die riesige Armee vorbeizog.
    Wie lang war ein Schlaf? Wie lang war der Tod? Vansen wußte nicht, wieviel Zeit verging, während er dastand, zu verblüfft und gebannt, um sich auch nur zu verstecken, und den Heerwurm vorbeiziehen sah. Als er verschwunden war, lag die Straße wieder beinah nackt da, nur von ein paar Nebelfetzen bedeckt.
    »Wir müssen ... ihnen folgen«, sagte Vansen schließlich. Es war schwer, schrecklich schwer, Worte zu finden und auszusprechen. »Sie ziehen südwärts. Zu den Menschenlanden. Wir werden ihnen in Richtung Sonne folgen.«
    »Die Menschenlande werden verschwinden.«
    Vansen drehte sich um und sah, daß Collum Saddler die Augen geschlossen hatte, als wäre da eine Erinnerung hinter seinen Lidern, die er für immer festhalten wollte. Der Soldat zitterte an allen Gliedern und sah aus wie jemand, der eben vom Berg der Götter herabgestürzt worden war, zerschmettert, aber frohlockend.
    »Die Sonne wird nicht wiederkommen«, flüsterte Saddler. »Der Schatten marschiert.«

21

Die Münze des Schankknechts
    Der Weg des Blauen Schweins:
Federn zu Schuppen,
Schuppen zu Stein, Stein zu Nebel,
Regen ist der Handlanger der Namenlosen.

Das Knochenorakel
    In Qul-na-Qar gab es einen Turm, dessen Name etwa so viel bedeutete wie »Geister der Wolken« oder »Die Geister in den Wolken« oder vielleicht auch »Was die Wolken denken« — es war nicht leicht, Menschenworte dazu zu bringen, den Tanz des Qar-Denkens nachzuvollziehen —, und hierher ging der blinde König Ynnir, wenn er wahre Ruhe suchte. Es war ein hoher Turm, wenn auch nicht der höchste in Qul-na-Qar: ein anderer überragte die ganze mächtige Festung wie ein himmelwärts gerichteter Speer, ein schlanker Spitzturm, der einfach nur der Hohe Ort hieß, aber seine Geschichte war seit den Jahren des Wehgeschreis eine finstere, und selbst die Qar vermieden es, ihn zu betreten oder auch nur durch den Nebel, der ihre größte Festung normalerweise umgab, dort hinaufzublicken.
    Ynnir din'at sen-Qin, Herr der Winde und des Denkens, saß in einem schlichten Sessel am Fenster eines der beiden höchstgelegenen Räume des Wolkengeistturms. Seine verschlissenen Kleider flatterten leise im Wind, aber ansonsten saß er völlig reglos da. Es war ein klarer Tag, jedenfalls nach den Maßstäben von Qul-na-Qar: Obwohl wie immer keine Sonne am grauen Himmel zu sehen war, hatte doch der scharfe Nachmittagswind den Nebel vertrieben. Die schlanke Gestalt, die in der Tür zum Turmzimmer geduldig darauf wartete, daß Ynnir das Wort an sie

Weitere Kostenlose Bücher